Hamburg/Paris. Im ersten Gespräch nach seinem HSV-Aus verrät Jonas Boldt, was der Fußball lernen muss und welchen Satz er auf den Index gesetzt hat.


Eine Stunde habe er ungefähr Zeit, sagt Jonas Boldt (42). Der frühere Sportvorstand des HSV hat seine weißen Kopfhörer in seinen Ohren und ist dem Abendblatt über Teams zugeschaltet. Er sei gerade in einer kleinen Wohnung in Paris, die er für die Zeit von Olympia günstig buchen konnte. Schräge Wände, der baumlange Ex-Manager muss sich ducken. Viel wichtiger aber sei, dass er direkt nach dem verabredeten Gespräch los müsse: zum Basketball. Dann zum Beachvolleyball. Zum Hockey. Und vielleicht ja auch noch zum Tischtennis.

Herr Boldt, erinnern Sie sich noch an Ihre Bestzeit über 100 Meter?

Jonas Boldt: Ich war nie ein Sprinter. Eher der Ausdauerläufer, der ein Tempo hält. Ich weiß noch, dass ich bei der Sporteingangsprüfung die 3000-Meter-Zeit deutlich unterboten habe.

Sie waren beim 100-Meter-Finale in Paris live dabei und hatten auf Ihrem Platz die beste Sicht. Hat Sie der Sieger Noah Lyles an Bakery Jatta erinnert?

Baka ist sehr schnell, aber das kann man natürlich nicht vergleichen. Das ist ein geplanter Sprint mit zehn Athleten, der nicht aus dem Affekt heraus passiert. Vor dem Start kannst du eine Stecknadel fallen hören, so ruhig ist es dort. Physisch sind das natürlich alles Monster.

Sie sind seit Ihrem HSV-Aus zum Sport-Groundhopper geworden, waren beim Stanley Cup, bei der Copa America, Formel 1 in Silverstone, in Wimbledon, bei der EM und nun bei den Olympischen Spielen. Genießen Sie nach fünf Jahren HSV die Zeit, mehr zu sehen als Zweitligafußball?

Ich genieße das total und es war auch eine bewusste Entscheidung. Als mir mitgeteilt wurde, dass meine Zeit beim HSV vorbei ist, wollte ich mich in erster Linie vernünftig von der Geschäftsstelle verabschieden und dann nach vorne schauen und die Zeit nutzen, da kamen die EM und die Olympischen Spiele perfekt gelegen. Aber auch Spiel sieben im Stanley Cup war beeindruckend. Ich bin immer ein wahnsinniger Sportfan gewesen und interessiere mich auch für die Bedeutung des Sports in der Gesellschaft. Es ist sehr interessant, den Sport in anderen Ländern mit dem in Deutschland zu vergleichen. Die vergangenen Wochen sind ein absolutes Geschenk, wenngleich ich natürlich gerne länger beim HSV geblieben wäre.

Wie kommen Sie an all die Karten?

Das Ticket für den Stanley Cup war die mit Abstand teuerste Karte, die ich mir in meinem Leben bislang gekauft habe. In Deutschland und Europa haben sich viele gemeldet und gefragt, ob ich vorbeikommen will. Aber auch hier in Paris habe ich ein paar Euro investiert. Es lohnt sich aber, weil es einfach tolle Erlebnisse sind.

Können Sie etwas genauer beschreiben, wie Sie die Spiele verfolgen?

Ich liebe den Sport, gucke als Sportfunktionär aber auch viel drumherum, wenn zum Beispiel vor dem 100-Meter-Lauf ein DJ spielt und eine Lichtershow beginnt. Ich gucke, wie die großen Sponsoren ihr Set-Up beim Event aufziehen. Der Park am Place de La Concorde, wo unter anderem Skateboarding, BMX und Breakdance stattfinden, wurde an einem Tag für Seh– und Gehbehinderte geöffnet, die dort skaten konnten. Das war das erste Mal, dass die urbane Kultur bei Olympischen Spielen integriert wurde. Es war ein tolles Beispiel dafür, welche Kraft und welche Wirkung der Sport hat, wenn man in ihn investiert.

Vermissen Sie diese Ideen in Deutschland?

In Deutschland habe ich immer das Gefühl, dass man sich für Erfolg rechtfertigen muss. Es gibt einen Satz, dem ich absolut nichts abgewinnen kann: „Damit kannst du nichts falsch machen.“ Ich finde diesen Satz unerträglich. Ich stehe doch nicht auf, um nichts falsch zu machen. Ich stehe auf, um etwas richtig zu machen, um gewinnen zu wollen. Dass du dabei etwas falsch machen kannst, ist klar. Wir schwimmen aber lieber in der Mitte mit, als dass wir vorangehen und Persönlichkeiten entwickeln. Der Sport ist meiner Meinung nach eine gute Möglichkeit, das wieder zu initiieren. Die EM hat das gezeigt, vor allem in Hamburg. Alle haben im Vorfeld die Verantwortung von sich weggeschoben, haben sich bezüglich der Sanierung des Volksparkstadions skeptisch oder sogar kritisch geäußert. Zur EM sind sie dann alle gekommen und haben sich feiern lassen.

Jonas Boldt (l.) verfolgte an der Seite seines ehemaligen Vorstandskollegen Eric Huwer das EM-Eröffnungsspiel gegen Schottland.
Jonas Boldt (l.) verfolgte an der Seite seines ehemaligen Vorstandskollegen Eric Huwer das EM-Eröffnungsspiel gegen Schottland. © Witters | Tim Groothuis

Was erwarten Sie von der Politik?

Wir dürfen uns nicht verstecken, solche Turniere zu veranstalten. Paris zeigt, dass das auch nachhaltig geht. Damit meine ich nicht nur die Veranstaltungsorte, sondern auch die nachhaltige Wirkung des Sports, der kulturellen Verbindung, der Völkerverständigung, der Leistungsförderung und sozialer Integration. Die Spiele zeigen mir wieder einmal, wie wichtig Sport in der Gesellschaft ist und wie wichtig es ist, Gewinner zu haben. Da sind wir alle gefordert, gemeinsam mit der Politik. Ich verstehe zum Beispiel nicht, dass wir für das Thema Sport kein eigenes Ministerium haben. Auch wir Sportfunktionäre müssen vorangehen, Verantwortung übernehmen und uns nicht verstecken. Das habe ich auch beim HSV immer versucht und stehe auch jetzt nach wie vor bereit.

Vor drei Jahren haben Sie bei uns im Interview während der Olympischen Spiele in Tokio bereits die Politik in die Pflicht genommen und mehr Wertschätzung für den Sport eingefordert. Hat sich seitdem etwas verändert?

Zu wenig. Wir haben jetzt die Chance, uns für die Spiele 2040 zu bewerben. Die gemeinsame Erklärung von Bund und DOSB sowie die Investition für die Bewerbung ist ein gutes Zeichen. Jetzt müssen es alle positiv nach draußen tragen und nicht nur ein Papier unterschreiben. Natürlich kostet all das Geld. Aber das Investment wird sich in einer Zeitspanne von 20 Jahren vor und nach den Spielen extrem positiv auf den Medaillenspiegel und auch auf die weichen Faktoren in der Gesellschaft auswirken. Das ist notwendig. Das haben wir 2006 gesehen, erlebt und gefühlt. Für eine Volkswirtschaft ist das eine so große und wichtige Chance. Der Wert, den du für eine Bevölkerung und eine Gesellschaft schaffen kannst, ist unbezahlbar.

Denken Sie in Paris oft daran, wie Hamburg diese Spiele ausgetragen hätte?

Da haben wir hier viel drüber gesprochen. Wenn ich sehe, wo hier die Veranstaltungen ausgetragen werden, etwa im Grand Palais, da bekomme ich Gänsehaut. Das hätte ich auch Hamburg und Deutschland zugetraut und traue ich uns auch in Zukunft zu. Denn organisieren können wir.

Ist Hamburg immer noch ein geeigneter Standort?

Hamburg und Berlin als Partner könnte ich mir gut vorstellen. Ich kann mir aber auch den Westen als Metropolregion sehr gut vorstellen. Die Distanzen in Paris sind groß und reichen von Duisburg bis Köln. Aber es funktioniert.

Es wird oft kritisiert, dass Nationen wie China und Saudi-Arabien die Turniere übernehmen und die demokratischen Länder sich raushalten.

Was die Organisation und den Umgang mit Sport und Events betrifft, wird in Saudi-Arabien ein guter Job gemacht. Sie haben die dafür nötige Wirtschaftskraft und die Kraft, nachhaltig zu investieren. Man darf aber nie den Kontext außer Acht lassen, natürlich sehe ich auch ganz klar Dinge kritisch.

Nicht nur die Saudis sind eine eigene Liga, auch die Chinesen. Inwiefern ist Doping bei Ihnen in Paris ein Thema?

Es ist Thema und ich bin ganz klar gegen Doping und für sauberen Sport. Es gibt hier leider wieder einige Beispiele, bei denen man sehr kritisch hinschauen muss. Natürlich kann niemand die Hand für saubere Spiele ins Feuer legen.

Die Wada war in den vergangenen Wochen extrem in der Kritik…

Ich habe die Welt-Anti-Doping-Agentur in den vergangenen Jahren so erlebt, dass mir das Vertrauen fehlt, dass sich Grundsätzliches im Anti-Doping-Kampf ändert. Man sollte die Prozesse der Wada transparent durchleuchten. Vielleicht braucht man für den Anti-Doping-Kampf auch mehr Geld. Ich würde mir auch wünschen, dass sich große Sportstars hier noch mehr engagieren und Verantwortung übernehmen.

Sie selbst haben in den vergangenen zwei Jahren durch den Fall Mario Vuskovic, der positiv auf Epo getestet wurde, viel mit der Wada zu tun gehabt. Was für ein Urteil vom CAS, dem internationalen Sportgerichtshof, erwarten Sie?

Ich bin weiterhin von einem Freispruch für Mario überzeugt. Mein Bauch sagt mir, dass das Urteil aber erst nach den Olympischen Spielen bekanntgegeben wird, um nicht parallel zu Olympia eventuellen Wirbel aufkommen zu lassen.

Ist es fair, an Vuskovics Unschuld zu glauben, aber von der Unschuld der Chinesen überzeugt zu sein?

Ja. Man muss Dopingfälle unterscheiden. Hier geht es ja nicht um ein Epo-Verfahren, bei dem man grau und grau vergleicht. Hier geht es beispielsweise um Testosteron, das viel eindeutiger zu beweisen ist. Das Epo-Verfahren, wie es bei Mario angewandt wurde, ist meiner Meinung nach dagegen nicht mehr zeitgemäß. Alle Indizien sprechen eindeutig für Marios Unschuld. In der Vergangenheit hat man bei Epo mafiöse Strukturen im Hintergrund aufgedeckt. Diese gibt es bei Mario nicht.

Zurück zum Sport: Sie gelten als großer Hockeyfan. Wie können sich eher kleinere Sportarten wie Hockey besser vermarkten, um im Schatten von Fußball finanziell stärker zu profitieren?

Genau dafür haben wir die Plattform „POWWOW Sports“ gegründet. Hierbei geht es darum, Athleten eine Stimme und die Plattform zu geben. Ziel ist unter anderem, Sportler und die sogenannte corporate world zu verbinden. Als Markenbotschafter, aber auch als potenzieller Mitarbeiter. Sportler können wunderbar in Firmen Teamgeist, Disziplin, Leistung, Ehrgeiz und ähnliches vermitteln. Auf Neudeutsch: Employer Branding.

Jonas Boldt und Moritz Fürste, hier 2022 am Hamburger Rothenbaum, sind eng befreundet.
Jonas Boldt und Moritz Fürste, hier 2022 am Hamburger Rothenbaum, sind eng befreundet. © Witters | Valeria Witters

Was ist der Mehrwert für die Athleten?

Die Sportler bekommen die Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen, ihre Geschichte zu erzählen. Wichtig ist dabei, dass alles aus Sicht der Sportler passiert. Und dann versuchen wir, interessierte Firmen oder Menschen mit diesen Sportlern zu verbinden.

Auch der frühere DFB-Manager Oliver Bierhoff hat kürzlich auf dem OMR in Hamburg über das Thema Storytelling im Sport gesprochen. Geben Sie ihm recht, dass man in den USA beim Thema der Sportvermarktung deutlich weiter als in Deutschland ist?

Unbedingt. Man muss nicht immer alles durchvermarkten. Aber was die USA viel besser draufhaben: Die Amerikaner feiern ihre Gewinner, zollen ihnen Respekt, erkennen Leistung an. Bei uns geht es dagegen oft darum, den Verlierer zu demütigen. Das ist der Kernunterschied. Zudem sind die Amerikaner offener für Veränderungen.

Beim Formel-1-Rennen in Silverstone war Jonas Boldt zu Gast in der Box von Nico Hülkenberg.
Beim Formel-1-Rennen in Silverstone war Jonas Boldt zu Gast in der Box von Nico Hülkenberg. © Imago | nordphoto GmbH

Für welche Unterhaltungselemente sollte sich der Fußball öffnen?

Ich bin ein großer Freund der traditionellen Fankultur. Aber gleichzeitig möchte ich nicht, dass man immer nur schwarz und weiß sieht. Warum kann der Fußball nicht ähnlich modern denken wie andere Sportarten. Beim Basketball haben wir das traditionelle fünf gegen fünf und das superschnelle 3x3, was allen großen Spaß macht. Auch beim Rugby haben wir bei Olympia das Sieben gegen Sieben. Warum kann man über derartige Modifikationen nicht beim Fußball zumindest mal nachdenken?

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Gerade erfreuen sich alternative Fußballliegen wie die Baller-League und die Icon League großer Beliebtheit. Sollte man diese Formate weiter stärken?

Ich finde die Ideen für diese Ligen zumindest sehr kreativ. Ob ich nun wirklich zum Fan der Baller League werde, kann ich noch nicht final sagen. Aber Dinge auszuprobieren, halte ich für richtig. Auch bei Olympia. Und genau über diese Dinge sprechen wir hier viel in Paris.

Wer ist die Menge wir?

Ich genieße es sehr, mich mit anderen Sportlern aus anderen Sportarten zu treffen und auszutauschen. Mit Mo Fürste (Hamburger Hockeylegende, die Red.) bin ich ja ohnehin sehr eng befreundet. Wir treffen uns aber auch fast jeden Abend mit dem früheren Handballer Pascal Hens, mit dem ehemaligen Skistar Felix Neureuther und vielen anderen. Im deutschen Haus oder bei verschiedenen Wettbewerben haben wir immer das eine oder andere Thema, über das wir diskutieren.

Wird auch über den HSV philosophiert?

Weniger. Hier und dort werde ich natürlich noch auf den HSV angesprochen – auch im deutschen Haus. Was mich fasziniert: Viele sagen mir, dass wir diese Saison bestimmt aufsteigen werden. Wir. Noch immer werde ich mit dem HSV assoziiert, obwohl ich ja nicht mehr verantwortlich bin. Aber mich freut das. Der HSV bleibt immer ein Teil von mir.

Haben Sie am Freitag das HSV-Spiel gegen Köln gesehen oder haben Sie sich für Deutschlands Basketballer gegen Frankreich entschieden?

Weder noch. Ich war mit der erwähnten Runde in Paris essen, die Band Revolverheld war auch dabei. Aber natürlich habe ich immer wieder auf meinem Handy den Ergebnisticker verfolgt und mitgefiebert. Trotzdem tut mir die Distanz, die ich hier in Paris habe, auch ganz gut. Ich werde auf jeden Fall mal wieder ins Volksparkstadion gehen und die Daumen drücken – aber nicht direkt beim ersten Heimspiel.

Schmerzt Sie das HSV-Ende noch?

Natürlich habe ich manche Dinge anders gesehen. Aber ich mag nicht, wenn man nach einer schönen, gemeinsamen Zeit nachtritt oder mit Schmutz um sich schmeißt. Ich habe die Entscheidung des Aufsichtsrats akzeptiert und mache nun das Beste aus meiner Pause. Und trotzdem werde ich weiterhin mit dem HSV fiebern.

Wenn man Ihnen so zuhört, wie Sie über Olympia und andere Sportarten sprechen, dann kann man sich kaum vorstellen, dass Sie in den kommenden Wochen beim Fußballclub XY als Sportverantwortlicher anheuern. Ist es denkbar, dass Sie den Fußball verlassen und eine andere Funktion in der großen, weiten Welt des Sports übernehmen?

Absolut. Ich kann mir vieles vorstellen. Der Fußball ist und bleibt mein Baby. Aber auch beim HSV habe ich mich nie als der klassische Sportdirektor gesehen, der den ganzen Tag am Verhandlungstisch sitzt oder das Training beobachtet. Ich finde Themen wie Leadership und Strategie sehr interessant – auch in anderen Bereichen als im Fußball.

Was ist wahrscheinlicher: Gold für Deutschlands Basketballmänner oder ein neuer Job für Sie noch in diesem Kalenderjahr?

Gute Frage. Den Basketballjungs um Dennis Schröder würde ich Gold auf jeden Fall wünschen. Ich bin ein großer Fan. Und was meine Zukunft betrifft: Irgendwann will ich natürlich wieder Verantwortung übernehmen. Aber ich muss nicht das erstbeste Angebot annehmen. Bis ich wieder in erster Reihe stehe, genieße ich erst einmal. Und Olympia hier in Paris genieße ich gerade in vollen Zügen.

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