Hamburg. Hamburgs Bundesligahandballer feiern ersten Punktgewinn gegen den Rekordmeister. Bitter hält ganz stark. Präsident gibt Saisonziel aus.

Als die Profis des HSV Hamburg (HSVH) in völliger Ekstase in Richtung ihres Torhüters sprinteten, spürte Johannes Bitter erst mal nur Schmerzen. „Es hat sich überhaupt nicht gut angefühlt. Es war zum Glück kein Stich, aber ein harter Krampf. Es hat mir ein bisschen Angst gemacht, als es nicht wieder aufgehört hat“, sagte der Keeper der Hamburger Bundesligahandballer.

15 Sekunden vor der Schlusssirene hatte Bitter mit seiner 15. Parade einen Siebenmeter von Niclas Ekberg pariert, im Gegenstoß erzielte Frederik Bo Andersen den 28:28 (15:16)-Ausgleich gegen den THW Kiel. „Es ist immer schön, als Torhüter in solcher Situation dazustehen. Da kannst du nur gewinnen. Ich habe ein bisschen spekuliert – und das nötige Glück gehabt“, freute sich Bitter. „Es war ein geiler Film heute.“

Handball: Bitter tut sich bei entscheidender Parade weh

Während Bitters Mitspieler dem Schlussmann den Krampf aus dem hinteren Oberschenkel drückten, rasteten die meisten der 10.173 Zuschauer in der Hamburger Barclays Arena am Volkspark völlig aus. Erstmals seit dem Bundesligaaufstieg 2021 holte der HSVH gegen den deutschen Rekordmeister einen Punkt, der sich laut Bitter „wie drei“ anfühlte. Am Tag danach fühlte sich auch der Torhüter wieder bestens.

„Das war das krasseste Tor meiner Karriere“, strahlte Andersen. „Und ,Jogi’, ich weiß gar nicht, wie alt er ist, hat wieder eine unglaubliche Leistung gebracht.“ Bester Werfer des HSVH, der jetzt nicht mehr um den Klassenerhalt bangen muss, war Andersens dänischer Landsmann Linksaußen Casper Mortensen mit neun Toren.

Kiel kam nur langsam ins Spiel, der HSVH begann temporeich

Die Kieler, die bei der kurzen Anreise offenbar in Stauprobleme geraten waren, begannen äußerst schläfrig, scheiterten in den ersten Minuten entweder an Bitter oder ihrer fehlenden Konzentration. Manchen Würfe wie von Nationalspieler Rune Dahmke fehlte anfangs die Präzision, der hellwache HSVH, der die vergangenen fünf Bundesligaspiel gewonnen hatte, führte schnell mit 3:0 (4. Minute).

„Die Jungs sind sehr gut aus der Kabine gekommen. Ich glaube, dass wir Kiel mit der Geschwindigkeit ein bisschen überrascht hat“, sagte HSVH-Geschäftsführer Sebastian Frecke und fügte angesichts von zuvor fünf Siegen in Folge hinzu: „Die Jungs haben sich das Selbstbewusstsein in den vergangenen Wochen erarbeitet. Da hat sich ein Selbstverständnis entwickelt.“

Kiel kam schnell wieder heran

Je weiter das Spiel voranschritt, desto anwesender wurden die Kieler allerdings. Nicht nur körperlich, sondern auch mental. Berauscht von Bitter-Paraden, starken Blöcken und dem daraufhin folgenden Jubel der Fans spielten die Hamburger mitunter zu hastig nach vorn, wodurch der THW einige Pässe einfach abfangen konnte. Allmählich wechselte das Momentum, nach einem vergebenen Mortensen-Gegenstoß glich Kiels Ekberg erstmals aus (7:7/16.).

In der Folge setzte sich die emotionale Achterbahnfahrt beim HSVH fort, was insbesondere am Beispiel Bitter zu beobachten war. Mal feuerte der 41-Jährige das Publikum nach einer Parade an, noch lauter zu werden, mal versank er nach Gegentoren in der Verzweiflung, führte Selbstgespräche, fluchte, blickte verzweifelt in Richtung der Ersatzbank. „Wir haben ein paar technische Fehler und Fehlwürfe zu viel gehabt“, klagte Spielmacher Dani Baijens in der Pause, als der HSVH mit 15:16 zurücklag. „Wir müssen die erste und zweite Welle von Kiel wegnehmen, ansonsten aber so weitermachen.“

Kiels Rückraum blieb gefährlich

Dummerweise war der THW auch nach der Halbzeit noch der THW – und der ist aus dem Rückraum mit einer Torquote von mehr als 52 Prozent so gefährlich wie kein anderer Bundesligist. Obwohl die Hamburger das natürlich wussten und die Kieler Rückraumspieler aggressiv angingen, überraschten die Kieler immer wieder mit starken Eins-gegen-eins-Aktionen oder ansatzlosen Abschlüssen.

Nach einer Zweiminutenstrafe gegen Kiels Ex-Nationalspieler Patrick Wiencek (40.) hätte der HSVH die Gelegenheit gehabt, das Ergebnis wieder zu drehen. Stattdessen leistete sich das Team von Trainer Torsten Jansen die schwächste Phase des Spiels. Fehlpass Zoran Ilic, Offensivfoul Baijens, Fehlpass Leif Tissier – und Kiel führte plötzlich mit vier Toren (20:24/44.). Die Entscheidung? Nein!

Cheftrainer Torsten Jansen sah Gelb

Spätestens jetzt wurde es auf dem Feld immer hitziger, auch der sonst so ruhige Jansen schimpfte nach einer diskutablen Schiedsrichterentscheidung wie ein Rohrspatz, sah daraufhin Gelb. Auch danach trugen die Schiedsrichterentscheidungen nicht gerade zur Entspannung bei, nach einem Baijens-Kempa-Versuch wurde per Videobeweis gecheckt, ob Ekberg dem Hamburger strafbar in den Wurfarm gegriffen hatte. Hatte er nicht – Pfiffe gab es logischerweise trotzdem (22:26/50.).

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Aufgegeben hatte der HSVH aber noch lange nicht, nach dem Anschlusstreffer von Ilic (25:26/56.) wurde es noch mal richtig eng. Es folgte die Bitter-Parade, ehe Andersen aus einem (eigentlich) unmöglichen Winkel mit links verwandelte. Die Kieler wirkten völlig geschockt, beim HSVH begann hingegen ein langer Party-Abend. „Mit sehr, sehr viel Bier“, wie Andersen ergänzte.

Zwei Tage danach traten die Verantwortlichen des HSVH aber auf die Euphoriebremse. „Wir sind ein Club, der sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich entwickelt hat, sportlich, wirtschaftlich, organisatorisch. Bei uns wird nun niemand für die nächste Saison die Parole ausgeben: ,Jetzt greifen wir Europa an‘“, sagte Vereinspräsident Marc Evermann dem Abendblatt. „Wir tun gut daran, unsere Situation realistisch zu betrachten. Solange wir in Hamburg nicht dauerhaft in einer größeren Halle spielen können, müssen wir weiter das Optimale aus unseren beschränkten Möglichkeiten machen. Das ist uns bisher gut gelungen, das ist aber keine Selbstverständlichkeit.“

Saisonziel ist ein einstelliger Tabellenplatz

Nach Platz sieben in der vergangenen Spielzeit wäre ein erneut einstelliger Tabellenplatz am Saisonende „wieder ein überragender Erfolg, selbst Rang zehn oder elf“, meint Evermann. „Uns fehlt im Kader einfach die Breite, um wie diesmal gleich drei Langzeitverletzte (Andreas Magaard, Dominik Axmann und Jacob Lassen, die Red.) zu kompensieren. Dann stoßen wir an unsere Grenzen.“

Ein Erfolgsfaktor des Vereins bleibt die Ruhe, die selbst nach acht sieglosen Spielen herrscht. „Wir hätten gar nicht die wirtschaftlichen Ressourcen, alles infrage zu stellen“, sagt Evermann, „und dazu gab und gibt es auch keinen Grund.“