Hamburg/Köln. Handball-Torhüter des HSV Hamburg spricht im Abendblatt über den Magdeburger Champions-League-Sieg. Wer Bitter besonders beeindruckte.

Gisli Kristjansson hat in seiner noch jungen Handball-Karriere schon viel erlebt. Nachdem der isländische Spielmacher im Jahr 2018 im Alter von 17 Jahren von seinem Heimatclub FH Hafnarfjörður zum THW Kiel gewechselt war, erlitt er drei schwere Schulterverletzungen, die ihn zu teilweise monatelangen Pausen zwangen. So etwa bei seinem ersten Spiel für den SC Magdeburg im Jahr 2020, als er ein massives Trauma an der linken Schulter erlitt, danach für den Rest der Saison ausfiel.

Am Sonnabend verletzte sich der 23-Jährige erneut schwer, kugelte sich die Schulter seines rechten Wurfarms aus, als der SCM den klar favorisierten FC Barcelona im Champions-League-Halbfinale mit 40:39-Sieg nach Siebenmeterwerfen niederrang. Ein Drama, nachdem Kristjansson beim Final Four in Köln erst sein Blitz-Comeback von einem im Viertelfinale im Mai erlittenen Knöchelbruch gegeben hatte.

Handball: Kristjansson wird zum Magdeburger Helden

Obwohl für kommende Woche bereits ein OP-Termin vereinbart wurde, stand Kristjansson beim Finale am Sonntag völlig überraschend wieder auf dem Feld, war beim 30:29-Verlängerungssieg gegen den polnischen Favoriten Barlinek Industria Kielce sogar entscheidender Mann.

„Er weiß, wie wichtig er für die Mannschaft ist. Es nötigt mir großen Respekt ab, wie er sich trotz der Schmerzen aufgeopfert hat“, sagt Johannes Bitter, der als TV-Experte in der Lanxess-Arena dabei war, am Montag im Gespräch mit dem Abendblatt. Der Bundesligatorhüter des HSV Hamburg (HSVH) weiß, wie sich der Champions-League-Titel anfühlt, im Jahr 2013 bestieg Bitter mit dem HSV Handball den europäischen Handball-Thron.

Kristjansson musste Wiegert überreden

„Ich hoffe, dass das für ihn keine weiteren gesundheitlichen Einschränkungen mit sich gebracht hat“, sagt Bitter. Den mehrere Kilogramm schweren Pokal wuchtete Kristjansson nur noch mit der linken Hand hoch, der rechte Arm hing schlaff herunter.

Am Sonntagvormittag hatte der SCM in Köln noch eine Halle gefunden, wo der Spielmacher seine Belastungsgrenze ausgetestet hatte. „Ich weiß nicht, wie viele Schmerzmittel ich in meiner Schulter habe“, sagte der 23-Jährige nach dem Finale. Obwohl SCM-Trainer Bennet Wiegert, dem in Omar Ingi Magnusson bereits der zweite isländische Rückraumstar verletzt fehlte, zunächst gegen einen Einsatz seines Spielmachers war, konnte Kristjansson ihn überreden.

„Ich habe mit unseren Ärzten gesprochen, wie ein Worst-Case-Szenario aussehen könnte. Mir wurde gesagt: Schlimmer als die eh anstehende Operation kann es nicht kommen“, berichtete Wiegert. „Ich war eigentlich nicht dafür, das zu machen, aber wenn ein Spieler kommt und sagt ‚Das ist vielleicht das größte Spiel meiner Karriere’, dann kann ich ihm das nicht verwehren.“

Bitter: "Absoluter Mentalitätswahnsinn"

Bitter, der von 2003 bis 2007 selbst für den SCM spielte, fehlten auch am Montag noch die Worte. „Es ist ein absoluter Mentalitätswahnsinn, den Magdeburg da abgezogen hat. Dass ein schwer verletzter Spieler versucht, irgendwie zu spielen und das Finale am Ende mitentscheidet, steht da symbolisch für das große Ganze“, sagt er. „Das ist ein absolutes Märchen. Es ist nicht zu erklären, wie man so etwas nach all diesen Rückschlägen schaffen kann.“

Tatsächlich fielen bei Magdeburg in dieser Saison neben Magnusson und Kristjansson mit dem dänischen Weltmeister Magnus Saugstrup und dem schwedischen Europameister Oscar Bergendahl gleich zwei Kreisläufer wochenlang aus. „Sie waren in der angenehmen Außenseiterrolle. Da haben sie sich wohlgefühlt, das hat man vorher gemerkt“, sagt Bitter. „Wie Bennet Wiegert diese Einheit inspiriert und einschwört, den Glauben immer aufrechtzuerhalten, ist beeindruckend.“

Bennet Wiegert gewinnt Titel als Spieler und Trainer

Schon 2002, als Magdeburg unter dem heutigen Bundestrainer Alfred Gislason als erste deutsche Mannschaft in der Königsklasse triumphierte, stand Wiegert als Spieler auf dem Feld. 21 Jahre später beförderte sich der Meistertrainer von 2022 mit dem Titelgewinn als Coach in eine illustre Reihe von nur fünf Menschen, denen dieses Kunststück bereits vor ihm gelungen war: Talant Dujshebaev, Carlos Ortega, Roberto Garcia Parrondo und Filip Jicha. Bundestrainer Alfred Gislason sagte, Magdeburg sei „derzeit die effektivste Mannschaft der Welt“.

Bitter und Wiegert kamen jeweils im Jahr 1982 auf die Welt, durchliefen gemeinsam sämtliche Jugend-Nationalmannschaften und spielten auch als Profis ein Jahr gemeinsam für den SCM. „Ich gönne Bennet diesen Titel sehr. Er ist besessen vom Erfolg und der Weiterentwicklung seiner Mannschaft. Magdeburg ist als Stadt wie gemacht dafür, diesen Club zu beheimateten. Es ist eine große Gemeinschaft dort, alle stehen hinter dem SCM“, sagt Bitter, der im Gegensatz zu seinem früheren Mitspieler noch immer aktiv ist.

„Bennet war noch ganz jung, als er als Spieler die Champions League gewonnen hat. Er hat mir gestern gesagt, dass er damals noch nicht so wertschätzen konnte, wie besonders dieser Titel ist. Mit der ganzen Arbeit dahinter hat der Titel für ihn jetzt einen ganz anderen Wert.“

Wiegert wollte Spielabbruch akzeptieren

Dass Wiegert angesichts eines medizinischen Notfalls während des Endspiels seinem Gegenüber angeboten hatte, eine Niederlage bei einem Spielabbruch zu akzeptieren, ist da umso bemerkenswerter. Während der 13-minütigen Unterbrechung sei er zu seinem Trainerkollegen Talant Dujshebaev gegangen und habe ihm angeboten: „Lass‘ uns das Spiel beenden. Wir nehmen das Ergebnis und ihr seid Champions-League-Sieger, denn es gibt wichtigere Dinge im Leben“, sagte Wiegert.

Ein polnischer Journalist war Mitte der zweiten Halbzeit auf der Tribüne plötzlich zusammengebrochen und später im Krankenhaus gestorben.

Bitter hofft auf Schub für deutschen Handball

Welchen Wert der Magdeburger Titel für den deutschen Handball hat, vermag Bitter nicht einzuschätzen. Fakt ist, dass nur fünf von 18 Spielern im SCM-Kader einen deutschen Pass haben. Für Bitter ist dies allerdings kein Indikator, dass der Gastgeber der Europameisterschaft im Januar 2024 international abgehängt wird.

„Ich würde nicht sagen, dass Deutschland keine Spieler mehr auf Weltklasseniveau hat. Es geht vielmehr um das System, das Bennet spielen möchte. Dafür sucht er sich die Spieler, die am besten passen“, sagt der Keeper. „Für die Nationalmannschaft und die Strahlkraft des deutschen Handballs hat dieser Titel bestimmt Vorteile. Ob das auch die Fans weiter euphorisiert, kann ich nicht einschätzen. Die Nationalmannschaft ist ein anderes Produkt.“

Und Gisli Kristjansson besitzt dummerweise auch keine Spielberechtigung für die deutsche Nationalmannschaft.