Istanbul. Der 22-Jährige ist Basketball-Weltmeister. Bei Anadolu Efes Istanbul interessiert das: niemanden. Wie er sich trotzdem durchsetzt.
Der Sound von Istanbul klingt laut. Prägnanter wird es nicht. Ein permanentes Grundrauschen fesselt die maßlose 15,5-Millionen-Einwohner-Metropole, akzentuiert von einem ständigem Hupen. Gehupt wird bei jeder Gelegenheit.
Wer sich in 80. Reihe in den Stau des Arbeitsverkehrs einreiht, der hupt. Wagt es jemand, an einer roten Ampel anzuhalten, wird gehupt. Wenn es keinen ersichtlichen Grund zum Hupen gibt, dann sowieso. Die Hupe als Lebensgefühl. Das Horn für Justus Hollatz ertönt nach drei Sekunden.
Wie sich Hollatz bei Anadolu Efes Istanbul einlebt
Viertelende. Nur für die finale Defensivsequenz wird der 22-Jährige gegen Zalgiris Kaunas aufs Feld gelassen. Bloß keinen Korb mehr zulassen. Der Wurf der Litauer geht daneben, und Hollatz atmet sichtbar auf. Job erledigt, dann geht es zurück auf die Ersatzbank. Später im Spiel kommen 31 weitere, überwiegend bedeutungslose Sekunden dazu, ehe der Hamburger Feierabend hat.
„Hier geht es wirklich nur ums Gewinnen und um nichts anderes“, sagt er. Eine Lektion, die der gebürtige Harburger schnell lernen musste, nachdem er im Herbst zu Anadolu Efes Istanbul gewechselt war.
Auch Weltmeister brauchen ein Kurzzeitgedächtnis
Als frischgebackener Basketball-Weltmeister schlug Hollatz in der Türkei auf. Die Mitspieler und Würdenträger des europäischen Spitzenclubs gratulierten brav. Und dann: War das alles völlig egal. Direkt vergessen.
Noch etwas, das der 1,96-Meter-Athlet besser schnell gelernt hat: „Ich habe überhaupt keine Zeit, mir über das vergangene Spiel Gedanken zu machen, analysiere es zwar, muss meine Konzentration dann aber zwangsläufig auf das nächste Spiel richten, das zwei, drei Tage später ansteht. Du musst ein Kurzzeitgedächtnis haben.“
Efes ist einer der besten türkischen Clubs
In der EuroLeague werden 34 Hauptrundenbegegnungen absolviert, dann folgen die Play-offs. 11.415 Zuschauer kommen durchschnittlich zu den Heimspielen von Efes in den Sinan-Erdem-Dome. Mehr Fans haben nur Partizan und Roter Stern Belgrad sowie Kaunas. Parallel dazu läuft der nationale Wettbewerb.
Die körperliche wie mentale Belastung ist enorm. Aber die meterlangen Banner zu Ehren von zwei Triumphen in der EuroLeague, 15 türkischen Meisterschaften und elf Pokalsiegen hängen schließlich nicht grundlos unter der Hallendecke. Sie sind Erinnerung wie Verpflichtung zugleich.
Auch Trainer Can ist neu im Verein
Efes wird an diesem Donnerstagabend Anfang November seiner Verpflichtung gerecht, gewinnt das Spiel gegen Kaunas mit 86:82 nach Verlängerung. Cheftrainer Erdem Can, dessen Schnäuzer ihn auf geradezu absurd klischeehafte Weise als Türken outet, ist erleichtert.
Auch der 43-Jährige ist neu im Club, kam im Sommer von Turk Telekom Ankara. Die Hauptstädter hatte er ins Halbfinale der türkischen Liga und Finale des EuroCups geführt, wurde anschließend als Übungsleiter des Jahres ausgezeichnet. Interessiert bei Efes? Genau, niemanden. Jemand wie Can coacht in jeder Partie um seinen Job. Garantien, Anlaufzeiten, Welpenschutz, so etwas gibt es in der EuroLeague nicht.
Hollatz muss sich über türkische Liga empfehlen
Zeit, jemanden wie Hollatz behutsam aufzubauen, bleibt kaum. „Justus ist sehr wichtig für unser Team. Die Anpassung an unser System, an das Niveau ist nicht einfach, weswegen er sich in der türkischen Liga empfehlen muss“, sagt Can, der glaubt, seinem Spielmacher anzusehen, mitunter zu nervös zu sein.
„Später in der Saison wird er dann auch in der EuroLeague deutlich mehr Minuten bekommen. Ich mache mir keine Sorgen“, sagt Can.
Kam der Wechsel in die EuroLeague zu früh?
Keine gängige Meinung, speziell in der deutschen Basketballszene. Es gibt nicht Wenige, die sich einen stetigeren Aufstieg des Supertalents, das die Hamburg Towers einst zum Zweitligatitel warf, über den spanischen Mittelklasseverein CB Breogan, immerhin in der besten nationalen Liga Europas beheimatet, gewünscht hätten.
Der Sprung zu Efes gleicht dagegen einer Exponentialkurve, selbst ein Wechsel zum FC Bayern München oder Alba Berlin, den deutschen EuroLeague-Clubs, wäre deutlich moderater gewesen.
Hamburger sollte eigentlich nach Ljubljana
Ursprünglich sollte Hollatz in dieser Saison ja auch erstmal nur die Zügel als Starspieler beim slowenischen EuroCup-Teilnehmer Cedevita Olimpija Ljubljana übernehmen, hatte dort bereits für drei Jahre mit diversen Ausstiegsoptionen unterschrieben.
Doch das verletzungsbedingte Saisonaus von Istanbuls Dogus Özdemiroglu rief die Efes-Manager auf den Plan, die Hollatz direkt für eine Saison plus Kaufoption aus Ljubljana ausliehen.
Seit Schröder war niemand so jung so erfolgreich
Ein Angebot, das man nicht ausschlägt. Zumal es wenig risikobehaftet ist, weil schon im kommenden Sommer die Möglichkeit besteht, andernorts wieder eine größere Rolle zu spielen.
Daran verschwendet Hollatz keinen Gedanken. Seit Nationalmannschaftskapitän Dennis Schröder, dem besten Spieler der WM, hat kein deutscher Aufbauspieler mehr so jung auf solch einem hohen Niveau agiert.
Berater entwerfen den Karriereplan
Derjenige, der den Deal mit eingefädelt hat, sitzt entspannt im schwarzen Kapuzenpulli in einem Hafencafé im Istanbuler Stadtteil Bakirköy, in dem Hollatz nahe der Heimarena lebt. Kein Wunder, sein Plan, Hollatz binnen fünf Jahren in die höchste europäische Spielklasse zu führen, ist schon nach vier Jahren aufgegangen.
Der Berliner Milan Nikolic (35) ist neben dem Serben Dragan Jankovski (42) der Agent von Hollatz. Wobei die Bezeichnung Berater treffender ist. „Wir haben für Justus schon in jungen Jahren ein Konzept erarbeitet, um ihn beim Training, im Tagesablauf, ganz einfach im Leben zu unterstützen, um aus ihm einen Nationalspieler zu machen“, sagt Nikolic.
Spieleragenten rissen sich um das Toptalent
Um Hollatz rissen sich die Berater früh, die guten wie die weniger guten. Als die Towers am 24. November 2019 in ihrer Premierensaison in der Bundesliga mit 69:102 bei ratiopharm Ulm untergegangen waren, sei er noch in der Arena von einem Agenten angesprochen worden, der meinte, der damals 18-Jährige sei der einzige Lichtblick seiner Mannschaft gewesen.
„Das war in dem Moment das Letzte, was ich hören wollte. Wir hatten mit 30 aufs Maul bekommen, da ist mir egal, wie gut oder schlecht ich gespielt habe“, sagt Hollatz noch heute mit reichlich Wut in der Stimme, während er spät abends am Steuer seines vom Verein gestellten Kia Sportage die nun wieder freien Autobahnen Richtung Süden des europäischen Teils der Stadt fährt.
Marktführer BeoBasket macht das Rennen
Das Rennen machten schließlich Nikolic und Jankovski, die für den Marktführer BeoBasket aus Belgrad arbeiten, weil sie auch den Segen von Hollatz’ Basketball-begeisterter Familie erhielten. „Milan ist wie ein großer Bruder für mich geworden, er durchlebt jeden Erfolg und Misserfolg mit“, sagt Hollatz über den studierten Politikwissenschaftler, der ihn regelmäßig besucht. Jankovski sei der rationalere Part des Duos: „Sie ergänzen sich gut.“
Bei Efes wolle er sich in dieser Saison darauf fokussieren, ein besserer Spieler zu werden, sich ganz oben etablieren. Nur vermeintlich phrasierte Worthülsen, die Hollatz im Training mit Leben zu füllen weiß. „Ich kann hier auf absolutem Spitzenlevel arbeiten, habe einen Topcoach und herausragende Mitspieler, an denen ich mich orientieren kann“, sagt Hollatz.
Betreuerstab von Efes ist so groß wie die Stadt
Eine Viertelstunde benötigt er bei günstiger Verkehrslage zur Halle, in der er meistens eine Stunde vor Trainingsbeginn aufschlägt, um ein Krafttraining der Beine zu absolvieren. Danach stehen eine Videosession an, eine halbe Stunde Individualtraining, zwei Stunden mit dem Team, in denen fast ausschließlich taktisch an spezifischen Spielsituationen gearbeitet wird, und dann noch mal Krafttraining, diesmal für den Oberkörper.
Dazu ist der Betreuerstab bei Efes so endlos lang wie die Stadt des Clubs. Für jeden Job scheint es einen eigenen Angestellten zu geben, vom Flaschenbeschrifter über den Trikotaufsammler bis auf Gute-Laune-Manager.
Druck in der EuroLeague ist riesig
Klingt nach einem gutem Programm. Wäre da nicht ständig dieser Druck. „Ich gehe jetzt mal lieber aufs Feld, sonst meckert der Coach noch“, sagt Hollatz nach zehn Minuten Interview im Sinan-Erdem-Dome.
Er zwinkert dabei, aber die Aussage war nur halb scherzhaft gemeint. Wer nicht mitzieht, fällt hinten runter. Dazu kommen die Egos der Spitzenspieler, mit denen umzugehen gelernt sein muss.
Profis nutzen jedes verfügbare Ventil
Profis auf diesem Niveau nutzen bereits während des Trainings jedes verfügbare Ventil, um Druck abzulassen. Der Deutsche Tibor Pleiß wirft in einer Trinkpause rückwärts von der Mittellinie auf den Korb.
Shane Larkin (31), der US-amerikanische Star von Efes, verstrickt seine Teamkollegen in die Diskussion, welcher der Actionhelden „John Wick“ und „The Equalizer“ einen fiktiven Kampf gewinnen würde. Hollatz bleibt meist still an der Bande. Auf dem Feld wird derweil herumgeblödelt, sich umarmt und geschubst.
NBA könnte ein Thema für Hollatz werden
Sobald Can die Einheit wieder aufnimmt, herrscht höchste Seriosität. Wer auf diesem Level nicht umgehend den Schalter umlegen kann, bleibt nicht lange. Trainiert wird immer absolut professionell, Fokus auf Basketball, etwas für Puristen. In der EuroLeague blicken daher viele abschätzig auf die nordamerikanische NBA. Diese sei eine Zirkusliga, in der dir bei Bedarf sofort eine zweite Zahnbürste gebracht wird, aber kaum jemand ernsthaften Basketball über die Show hinaus spielt.
Für Hollatz war die Eliteliga durchaus mal ein Thema und könnte es auch wieder werden, athletisch kann er mithalten. Mit seiner kalkulierenden Spielweise und der Pass-vor-Punkt-Mentalität passt der 39-fache Nationalspieler jedoch wesentlich besser nach Europa.
Team neu, Stadt neu, alles neu
Aber von diesem Exkurs zurück nach Bakirköy. Hier ist der Trainingsmarathon inzwischen beendet. Die Zeit zwischen den Einheiten verbringen die Spieler zumeist für sich. Die Familienväter sind daheim, Hollatz hält gern einen Mittagsschlaf.
Er ist noch in der sicheren Übergangsphase, in der alles neu genug ist, um sich nicht zu langweilen, wenn man kaum jemanden in der Stadt kennt. Eine Herausforderung ist es dennoch. Ganz zu schweigen für einen 22-Jährigen.
Pleiß nimmt sich Hollatz an
Zum Glück erhält Hollatz Hilfe. 2,18 Meter große Hilfe. Sein Mitspieler Tibor Pleiß, der seit 2018 bei Efes spielt und dort am Legendenstatus arbeitet, nahm seinen zwölf Jahre jüngeren Landsmann direkt unter seine Flügel.
Pleiß, mit neun Titeln in den vergangenen fünf Jahren der erfolgreichste deutsche Basketballer in dieser Zeitspanne, ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Es braucht keine zwei Sätze Aufwärmzeit, um mit dem ungemein sympathischen Kölner mitten in einem tiefgründigen Gespräch zu sein.
Hollatz: "Basketball hat einen großen Stellenwert"
Warum er Hollatz direkt ungefragt unterstützt hat? „Er gibt mir doch auch ganz viel“, entgegnet Pleiß. „In meinen elf Jahren als Profi außerhalb Deutschlands spiele ich erstmalig mit einem Deutschen zusammen. Das hilft mir genauso, und es versteht sich von selbst, einem jüngeren Kollegen in so einer anstrengenden Stadt bei der Eingewöhnung zu helfen.“
Beim Mittagessen in einer der zig Einkaufsmalls, in denen sich das Istanbuler Leben abspielt, wird der Center von jedem Kellner persönlich begrüßt. Hollatz ist noch unbekannt. „Man merkt immer wieder, welchen Stellenwert der Basketball hier hat. Dem zolle ich Respekt. Es macht mich aber nicht nervös, sondern motiviert mich“, sagt er.
Pleiß zahlt erst Mietraten für Hollatz
Für die Feinheiten kann er bei Pleiß um Rat fragen – fürs Grobe mitunter auch. Der zweifache EuroLeague-Gewinner arrangierte Hollatz nicht nur ein Apartment im selben Wohnhaus mit Blick aufs Marmarameer, er zahlte auch die ersten Mietraten, weil sein Mannschaftskamerad noch kein türkisches Konto hatte. „Das darfst du gern weiter machen“, scherzt Hollatz über den sechs Stockwerke höher wohnenden Freund.
In Ismet Akpinar (28), der für Galatasaray Istanbul spielt, lebt ein weiterer Hamburger nur rund zehn Autominuten entfernt. Da sich Galatasaray und Efes die Halle teilen, laufen sich die Deutschen regelmäßig über den Weg. „Demnächst wollen wir mal einen Kaffee trinken, Izi ist ein guter Typ", sagt Hollatz.
Einladung zum Geburtstag von Shane Larkin
Pleiß will ihm zudem den deutschen Volleyballer Jan Zimmermann (30) vorstellen, der ebenfalls für Galatasaray aufschlägt. Die deutsche Enklave wächst, für wohlige Atmosphäre ist gesorgt.
Und doch ist es für den Hamburger – ein Weltmeister und gestandener Profi wohlgemerkt – mitunter noch immer surreal, in welcher Liga er nun spielt, sportlich wie vom Standing her. Kürzlich telefonierte er mit seiner Mutter Manuela, erzählte davon, dass er bei Larkins Geburtstagsparty eingeladen war.
Nowitzki-Kollege chauffiert Hollatz
Der Franzose Rodrigue Beaubois (35), 2011 NBA-Champion an der Seite von Dirk Nowitzki, holte ihn dazu mit seiner Luxuslimousine ab. „Zuerst hat Jussi ganz cool getan, aber dann meinte er: ,Mama, das ist schon krass, wo ich hier hineingeraten bin’“, sagt Manuela Hollatz.
Dass selbst europäische Basketballgötter Menschen sind, fand Hollatz bei der Feier schnell heraus: „Nach einer Stunde haben dann fast alle über ihre Kinder und Familien geredet, da war ich raus.“
Nikolic: "Nationalmannschaft bald Justus' Team"
Mit 22 Jahren ist der Single von den relevanten Istanbuler Akteuren deutlich der jüngste. Eine Rolle, die er kennt. Sowohl beim Gewinn der EM-Bronzemedaille 2022 in Berlin als auch beim WM-Titel im September in Manila war Hollatz das Küken in der Nationalmannschaft.
Diesen Status wird er nicht mehr lange besitzen. Schon nach Olympia 2024 in Paris werden einige Weltmeister aus dem Nationalteam zurücktreten, Hollatz’ Bedeutung wachsen. „Am Tag, an dem Dennis Schröder aufhört, ist das Justus’ Team“, sagt Nikolic.
Bundestrainer Herbert: "Zukunft des deutschen Basketballs"
Selbst Bundestrainer Gordon Herbert hatte ihn im Gespräch mit dem Abendblatt schon als „Zukunft des deutschen Basketballs“ bezeichnet. Hollatz ist solches Lob noch immer ein wenig unangenehm.
Er grinst dann verschmitzt, kommentiert das aber nicht weiter. Ein Lautsprecher wird er in diesem Leben nicht mehr, seines Stellenwertes ist sich der Point Guard aber mittlerweile sehr wohl bewusst.
Ein Istanbuler muss Hollatz erst noch werden
Hollatz ist hungrig geworden auf Erfolge. Und durstig. Am Nachmittag geht es wieder in die Mall. Hollatz braucht einen Smoothiemaker, um sich eigene Säfte zu mixen. Das Deluxemodell, in dessen Besitz Pleiß ist, soll es aber nicht werden. „Nur ein ganz billiges für 30 Euro“, sagt er.
Die Schranke zum Parkhaus öffnet sich zunächst nicht. Natürlich hupt jemand hinter ihm. Hollatz hält die Hand ebenfalls auf das Hornsymbol, widersteht, norddeutsch sozialisiert, aber der Versuchung, es zu betätigen. Er mag Weltmeister sein. Aber ein richtiger Istanbuler zu werden, das muss er erst noch meistern.