Düsseldorf. Die Kiezkicker überzeugen über weite Strecken im Spitzenspiel. Held des Abends ist erneut Mittelfeldakteur Marcel Hartel.

Es war einmal der 5. November 2022. Damals unterlag der FC St. Pauli bei Fortuna Düsseldorf mit 0:1. Es klingt wirklich wie ein Märchen. Denn außerhalb Hamburgs Stadtgrenzen verliert der Kiezclub doch schließlich keine Pflichtspiele... zumindest seit diesem Datum nicht mehr.

Und auch am Abend des 27. Januar 2024 hätte man schon unter die Märchenerzähler gehen müssen, um von einem Ende dieser eindrucksvollen Serie zu berichten. Nur mit "nicht verloren" gab sich das Millerntor-Team am Sonnabend am Ort der bis dato letzten Pleite fern der Heimat nicht ab, sondern besiegte die stark einzuschätzenden Düsseldorfer überzeugend mit 2:1 (2:0) und bleibt damit souveräner Tabellenführer der Zweiten Liga.

FC St. Pauli gewinnt bei Fortuna Düsseldorf

Im Rahmen der Aktion "Fortuna für alle" war die Merkur Spiel-Arena zwar "ausverschenkt", zwölf Plätze blieben dennoch leer. So sollte symbolisch den verfolgten, deportierten und ermordeten Menschen während des Holocausts gedacht werden.

Nach vier Minuten erhob sich der Teil des Heimpublikums, der noch saß, erstmalig, um ihre Mannschaft anzufeuern. Sie brauchte es. Zu diesem Zeitpunkt hatte Marcel Hartel bereits das 1:0 für St. Pauli auf dem Fuß gehabt (3.), war aber an Florian Kastenmeier gescheitert, der die Hamburger schon beim 0:0 im Hinspiel mit seinen Paraden in den Wahnsinn getrieben hatte.

Thioune: "Es kommt Arbeit auf uns zu"

"Es kommt viel Arbeit auf uns zu, wenn der Klassenprimus, der zurecht dort steht, zu Gast ist. Aber ich habe meiner Mannschaft gesagt, wenn du gegen den Tabellenführer spielst, dann am besten zu Hause vor ausverkauftem Stadion", hatte Fortuna-Trainer Daniel Thioune bereits vor der Partie gewarnt.

Angesprochen auf die Bundesligareife seiner Elf sagte der ehemaligen HSV-Coach: "In meinem Team und ein bisschen auf in mir steckt Potenzial. Wir sind noch nicht zufrieden mit dem, was wir bisher erreicht haben."

Hartel bringt St. Pauli per Elfmeter in Führung

Doch diese gewünschte Reife ließen die Rheinländer bald vermissen. Einen Freistoß von Eric Smith wehrte Vincent Vermeij als Teil der im Sechszehner stehenden Mauer mit dem Ellbogen ab. Hart, aber unstrittig und auch nicht ganz clever vom Stürmer. Schiedsrichter Frank Willenborg entschied folglich auf Strafstoß.

Und wenn es eines Beweises der Bundesligareife - wenn nicht gleich direkt St. Paulis - von Marcel Hartel gebraucht hätte, der Elfmeter wäre es gewesen. Als gebürtiger Kölner vor der pfeifenden und tobenden Düsseldorfer Wand, dazu gegen Quälgeist Kastenmeier. Doch der beste Zweitligaspieler dieser bisherigen Saison blieb ungemein cool und ließ den Keeper ("Ich habe versucht, ihn auszugucken") bei seiner Verlade älter aussehen als das gleichnamige Düsseldorfer Bier (schmeckt).

Nun macht er's auch noch per Kopf

Wer diesen Status - also den von Hartel, nicht vom Bier - anficht, muss gute Argumente suchen und dürfte sie nicht finden. Denn seinem zehnten Saisontreffer, zugleich der 24. Torbeteiligung im 22. Pflichtspiel dieser Serie, ließ er alsbald die Nummern elf und 25 folgen.

Und weil es bis dahin nicht schon eindrucksvoll genug war, trifft der 28-Jährige nun auch noch mit dem Kopf (26.). Hartel, Hartel, Hartel. Es würden sich ganze Berichte nur mit Oden an ihn füllen lassen.

Hamburger dominieren Partie in Hälfte eins

Aber es war ja auch St. Pauli, St. Pauli, St. Pauli. Vorausgegangen war dem 2:0 nämlich eine herrliche Offensivkombination. Verlagerung von links auf rechts durch Elias Saad auf Oladapo Afolayan, Weitergabe zu Manolis Saliakas, Flanke, Tor. Im Lexikon zu finden unter: Bundesligareife, die. "Die Flanke von Manos war top, da musste ich nur noch den Kopf hinhalten", sagte Hartel.

Dass der Gegner noch auf dem Platz war, wies dann ein Distanzschuss von Ao Tanaka nach (39.). Kein Problem für Nikola Vasilj, der unter der Woche seinen Vertrag bis mindestens 2026 verlängert hatte.

Németh vertritt Hürzeler als Trainer

Die Gäste verstanden es sogar, Düsseldorf mehr als 60 Prozent den Ball zu überlassen. Doch die Offensivbemühungen der Gastgeber erinnerten zeitweise an die Handball-EM. Es wurde herumgepasst, eine Lücke gesucht, aber nie gefunden. St. Pauli lief sie alle zu - und in Halbzeit eins satte sieben Kilometer mehr (67:60).

Ist Ihnen bis hierhin etwas aufgefallen? Es war noch nicht einmal die Rede davon, dass Co-Trainer Peter Németh den Gelb-gesperrten Chefcoach Fabian Hürzeler an der Seitenlinie ersetzte. Weil es eben kein Thema war. An der bekannten Dominanz der Kiezkicker änderte dies schließlich nichts.

Vasilj entschärft kurz nach der Halbzeit

Hürzeler hatte dann in der Halbzeit zumindest die Chance zum Eingreifen. Als "nur" Gelbsünder war es ihm im Gegensatz zu Rot-gesperrten Trainern erlaubt, zur Pause in die Kabine zu gehen.

Der 30-Jährige war womöglich noch auf dem Weg zurück nach oben auf die Tribüne, als es dann doch mal richtig brenzlich wurde. Kurz nach Wiederbeginn musste sich Vasilj richtig strecken, um den Kopfball von Jordy de Wijs gerade noch so übers Tor zu lenken (47.).

Fortuna drängt auf den Anschlusstreffer

Es war der Beginn einer Periode, in der die Hamburger, wie bereits beim Rückrundenauftakt in der Vorwoche gegen den 1. FC Kaiserslautern (2:0) unter Druck gerieten. Emmanuel Iyoha legte einen Fernschuss nach, bei sich Vasilj diesmal horizontal strecken musste (49.).

Überhaupt hatte Düsseldorf nun doch viel Ball und Feldanteile. Aber der Kontrahent musste schließlich auch kommen und bot damit Raum für Konter. Einen davon hätte Saad zur Vorentscheidung abschließen können (56.), aber Kastenmeier gab es ja auch noch.

Kiezclub im Glück - Abseitstor

Im Kasten war der Ball wenig später trotzdem - nur scheinbar (60.). Das vermeintliche Anschlusstor von Christos Tzolis wurde wegen einer Abseitsstellung von Vorlagengeber Isak Bergmann Johannesson nicht gegeben. Zuvor hatte sich Eric Smith einen weiteren seiner ungewöhnlich häufigen Ballverluste geleistet.

Es fühlte sich letztlich zumeist gefährlicher an, als es war. Zumal Philipp Treu und Hartel mit ihren Versuchen für Entlastung sorgten (67.).

Tzolis trifft nach Konter zum 1:2

Afolayan hätte per Kopfball nach Chipball von Saad abermals alles klarmachen können (76.). Stattdessen ließ sich St. Pauli zu sehr locken und gab selbst Lücken für Konter frei. Einen davon nutzte Tzolis - diesmal ohne Abseitsverdacht -, nachdem er Hauke Wahl ins Leere laufen ließ und Vasilj keine Chance gab (83.).

War Hürzelers/Némeths Mannschaft wirklich so reif, nun vor 52.000 Zuschauern den Vorsprung über die Zeit zu retten? Sie spielte jedenfalls munter weiter nach vorn, kratzte aber auch heraus, was hinten auszukratzen war.

134 Kilometer Laufleistung

134 (!) Kilometer spulten die Norddeutschen letztlich ab, zehn mehr als der Gegner. Eine geradezu unerhörte Zahl. "Dieser Wert überrascht mich selbst, Respekt an die Mannschaft. Damit sind wir Düsseldorfs Angriffe zumeist zugelaufen", sagte Hartel, der als Kölner darüber schmunzeln musste, in Düsseldorf zweimal getroffen zu haben.

Wie motiviert die Mannschaft beim Verteidigen war, beschrieb Innenverteidiger Wahl am "Sky"-Mikrofon: "Wir haben in der Winterpause viel daran gearbeitet. Das hat nicht immer Spaß gemacht."

Gästefans feiern Auswärtssieg

Und so geschah am Ende: nichts mehr. "Wir haben bis zur letzten Minute sehr gut verteidigt", lobte Saliakas. Die mitgereisten Anhänger bejubelten den zehnten Saisonsieg.

Németh schritt glücklich in die Katakomben hinab. "Sehr gutes Gefühl, alles wie immer", sagte der Slowake, den Saliakas einen "besonderen Menschen für unser Team" nannte.

Das Märchen geht weiter. In dieser Saison scheint für St. Pauli zu gelten: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann bleiben sie auch heute noch ungeschlagen.

Fortuna Düsseldorf: Kastenmeier - Iyoha (72. Uchino), Hoffmann, de Wijs, Gavory (87. Jastrzembski) - Niemiec (62. Klaus), Tanaka, Engelhardt, Johannesson (62. Daferner), Tzolis - Vermeij.
FC St. Pauli: Vasilj - Wahl, Smith, Mets - Saliakas (89. Ritzka), Kemlein, Hartel, Treu - Afolayan (85. Boukhalfa), Eggestein, Saad (80. Amenyido).
Tore: 0:1 Hartel (16./HE), 0:2 Hartel (26.), 1:2 Tzolis (83.). Schiedsrichter: Willenborg (Osnabrück). Zuschauer: 52.000 (ausverkauft). Gelbe Karten: Tzolis (4), de Wijs (4) - Vasilj, Kemlein, Rashwan (Athletiktrainer). Statistiken: Torschüsse: 11:14; Ecken: 2:4; Ballbesitz: 54:46 Prozent; Zweikämpfe: 104:78; Laufleistung: 122,7:132,7 Kilometer.