Hamburg. Nach der verspielten Herbstmeisterschaft verfolgt der Kiezclub konkrete Pläne, die Mannschaft im Winter zu verstärken.
Eigentlich darf der FC St. Pauli dieses 1:1 (0:0) gegen den SV Wehen Wiesbaden als großes Kompliment ansehen. Eigentlich die gesamte Hinrunde, ja komplette Jahr 2023. Eigentlich. Denn tatsächlich herrschte auf braun-weißer Seite am Sonntagnachmittag nur ein Gefühl vor: die krasse Enttäuschung.
Über zwei wirklich absolut verschenkte Punkte (pünktlich zu Weihnachten, haha); über die verpasste Herbstmeisterschaft, die stattdessen Holstein Kiel feiert; und ein wenig auch darüber, dass die sanfte Sorge zurück ist, dass sich die vorvergangene Saison wiederholen könnte, als St. Pauli nach überragender Hinrunde in der Rückserie noch den Bundesliga-Aufstieg verspielte.
St. Pauli verpasst Herbstmeisterschaft
Und was daran ist nun – eigentlich – als Kompliment zu betrachten? Ein Blick in Richtung Gästeblock verriet es. Die Wiesbadener feierten ihren glücklichen Punktgewinn wie Weihnachten, Silvester und Ostern zusammen.
Und genau diese Szenerie wiederholt sich bei jeder Begegnung, die der wohlgemerkt noch ungeschlagene FC St. Pauli in dieser Saison nicht gewinnt. Neun solcher Spiele endeten nun schon Unentschieden, während der Gegner einen gefühlten Sieg bejubelte. In jeder Partie waren die Kiezkicker dem Erfolg weitaus näher gewesen.
Irvine: "Hatten die komplette Kontrolle"
„Wie sich die anderen Mannschaften feiern, sagt alles darüber aus, wie wir auftreten. Auch heute hatten wir die komplette Kontrolle“, sagte Kapitän Jackson Irvine, dessen Team praktisch unisono von gegnerischen Akteuren wie Trainern als stärkstes der Zweiten Liga eingeschätzt wird. Nur Zählbares bringt eine solch fiktive Auszeichnung nicht, bietet aber Potenzial für reichlich Frust.
Die Tabellenspitze der 2. Bundesliga
1. FC St. Pauli 34 / 62:36 / 69
2. Kiel 34 / 65:39 / 68
3. Düsseldorf 34 / 72:40 / 63
4. HSV 34 / 64:44 / 58
5. Karlsruhe 34 / 68:48 / 55
6. Hannover 34 / 59:44 / 52
7. Paderborn 34 / 54:54 / 52
8. Fürth 34 / 50:49 / 50
„Es nervt, immer wieder die selben Themen anzusprechen“, sagte Irvine. Besagte Themen sind eigentlich ein Thema, die Chancenverwertung. Dass Hauptmanko, weswegen die Mannschaft von Cheftrainer Fabian Hürzeler nicht längst an der Tabellenspitze davongezogen ist, ist die Ineffizienz vor dem gegnerischen Tor.
Torschussverhältnis von 28:5
Gegen die vom ehemaligen St.-Pauli-Coach Markus Kauczinski betreuten Wiesbadener nahm das Torschussverhältnis Ausmaße eines Drei-Ligen-Unterschieds von 28:5 an. Bei weitem nicht erstmalig in dieser Serie. Doch Irvine, Torschütze Marcel Hartel, Elias Saad, Oladapo Afolayan, Connor Metcalfe und Co. scheiterten reihenweise, häufig genug an Wehen-Keeper Florian Stritzel.
Haben wir also wieder wie zu Saisonbeginn eine Stürmerdiskussion, die sich in den darauffolgenden Wochen als zu Unrecht geführte Debatte herausgestellt hatte? Nein, dieses Fass wird vorerst kein weiteres Mal aufgemacht. Auch der FC St. Pauli scheint dies so zu sehen.
St. Pauli sucht Mittelfeldspieler und Rechtsaußen
Nach Abendblatt-Informationen befassen sich Sportchef Andreas Bornemann und sein Team nicht mit der Verpflichtung eines Angreifers in der Winterpause. Stattdessen stehen ein Sechser und/oder Achter sowie ein linksfüßiger Rechtsaußen auf der Wunschliste für das bis zum 31. Januar 2024 geöffnete Transferfenster.
Gegen Wiesbaden, wie schon gegen etliche Gegner zuvor, war nur selten die fehlende Abschlussqualität ausschlaggebend, stattdessen waren es viel häufiger Pech und vor allem herausragende Torwartleistungen. „Niemand vergibt absichtlich Chancen, da mache ich keinem einen Vorwurf. Aber es ist schon auffällig, dass gegen Düsseldorf, Magdeburg und Wiesbaden drei gegnerische Torhüter drei der besten Leistungen gebracht haben, die ich in meiner Karriere erlebt habe“, sagte Irvine. „Wir schießen die Dinger ja nicht über die Wolken“, ergänzte Hartel dazu, dass häufig nur Zentimeter zum Glück gefehlt hatten.
Gefrusteter Hürzeler: "Schritt nach vorn"
Womöglich, und da wären wir wieder beim Kompliment angelangt, ist die Art und Weise, wie St. Pauli Wege findet, ein Spiel nicht zu gewinnen, Vorbote (noch) erfolgreicherer Zeiten. Denn die Dominanz ist ein guter Indikator dafür. Nicht umsonst bezeichnete Hürzeler, wenngleich offensichtlich genervt vom dritten Remis in Serie, das Match gegen die Hessen als „weiteren Schritt nach vorn“.
Seiner Elf war es mehrfach gelungen, Wehen „fertig zu machen“, wie Irvine es nannte. Nie zuvor in dieser Saison waren die Hamburger derart oft in der Lage, letzte Linien des Gegners zu überspielen, freie Angreifer gegen eine mal wieder enorm tief stehende Defensive zu finden, Bälle und Positionen zu verlagern und den Rivalen hinterherlaufen zu lassen.
Wiesbaden gelingt später Ausgleich
Doch zu oft häufen sich die Situationen, in denen die Konkurrenz genau die Effizienz zeigt, die die Kiezkicker vermissen lassen. Bis zur 75. Minute hatte Wehen einen Expected-Goal-Wert, zu erwartende Tore also, von sagenhaften 0,00 zustande gebracht.
Nahezu unmöglich. Dann pfefferte der eingewechselte John Iredale erst einen Schuss ans Lattenkreuz (81.), ehe dem Australier der Ausgleich gelang, als die Absicherung bei St. Pauli einen Moment lang nicht gegeben war (84.).
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Foul an Afolayan vor Ausgleich keine Ausrede
Dass dem 1:1 eine foulwürdige Aktion gegen Afolayan vorausgegangen war, ließ Hürzeler nicht als Ausrede gelten. „Dann hätten sie das Tor zurückgenommen. Gegentreffer fangen nicht beim Verteidigen an, sondern beim Ballverlust“, sagte der 30-Jährige nach einer Hinrunde, die mit einem Rückschlag endete, aber in der Makroperspektive auf einen Aufstieg hindeutet.
„Es ist extrem positiv, welches stabile Fundament wir uns innerhalb eines Jahres aufgebaut haben“, sagte Hürzeler, der St. Pauli seit dem 9. Dezember 2022 in leitender Funktion betreut. Das letzte Kompliment stellte er sich selbst aus.