Hamburg. Spieler wie Felix Nmecha und Benedict Hollerbach stehen in der Kritik. Welche roten Linien der Kiezclub seinen Profis setzt.
Benedict Hollerbach hatte mit seiner hellblonden Lockenmähne gerade erst in die Kamera gelächelt, um seinen Wechsel von Wehen Wiesbaden zu Union Berlin festzuhalten, da hatten Fans der Köpenicker bereits die dunkle Seite des 22-Jährigen enthüllt: Hollerbach folgte in den sozialen Medien Seiten, die frauenfeindliche und dem rechten Milieu zuzuordnende Inhalte verbreiten. Union wusste darüber Bescheid, soll zwischenzeitlich einen Abbruch der Transferverhandlungen in Erwägung gezogen haben.
Wenige Wochen zuvor stand Borussia Dortmund massiv in der Kritik, nachdem der deutsche Vizemeister Felix Nmecha verpflichtet hatte. Der 22 Jahre alte missionierende Christ hatte zuvor im Internet Videos des US-amerikanischen Rechtspopulisten Matt Walsh geteilt, die als homophob einzuordnen sind, und dies mit seinem Glauben begründet. Teile der Fans des BVB liefen Sturm, die Vereinsführung unterhielt sich eingehend mit Nmecha, um sicherzustellen, dass die Überzeugungen des Nationalspielers mit den Werten des Clubs vereinbar sind.
Sportliche Kriterien haben Priorität
Beim Stichwort Werte im Fußball ist die Verbindung zum FC St. Pauli schnell gezogen. Dürfen, überspitzt formuliert, nur politisch-korrekte Profis beim Kiezclub unterschreiben? Die kurze Antwort: nein. Die längere: Es ist kompliziert.
Zu internen Onboarding-Prozessen machen die Hamburger zwar keine Angaben, aber sportliche Kriterien genießen höchste Priorität. Beim Scouting achten die Verantwortlichen unter anderem jedoch auch auf den Charakter der Spieler, „denn Eigenschaften wie Verantwortungsbewusstsein und die Bereitschaft, sich für die Gemeinschaft einzubringen, sind bei uns sehr relevant“, teilt der Verein mit.
Keine Gesinnungsprüfung für St.-Pauli-Profis
Neue Spieler müssen aber keine „Gesinnungsprüfung“ oder Ähnliches ablegen. Bekannt ist dem Abendblatt lediglich ein Fall, bei dem ein Akteur vor Bekanntgabe seiner Verpflichtung darum gebeten wurde, bei Instagram einem rechtskonservativen Politiker zu entfolgen, den er zuvor aus vorrangig informativen Gründen abonniert hatte. „Der FC St. Pauli respektiert unterschiedliche Meinungen und Einstellungen, nur gegenüber diskriminierenden Verhalten und menschenfeindlichen Einstellungen sind und bleiben wir intolerant“, schreibt der Club.
Ein Statement, das Anklang bei Prof. Dr. Franz Bockrath findet. „Ich finde es gut, wenn sich Vereine bekennen, über den Tellerrand hinausschauen. Das ändert zwar nicht die persönliche Einstellung des einzelnen Spielers, aber setzt ein Zeichen“, sagt der Leiter der Abteilungen Sportpädagogik und Sportgeschichte an der TU Darmstadt.
FC St. Pauli propagiert sehr offensiv Werte
Der FC St. Pauli trete diesbezüglich sehr offensiv auf. „Da ist allerdings Vorsicht geboten, den Bogen nicht zu überspannen, um nicht Wasser auf die Mühlen derer zu spülen, die überzeugt sind, auf allen Ebenen reglementiert zu werden“, sagt der 65-Jährige und rät: „Nicht moralisieren, sondern aufklären.“
Probleme können sich, siehe Nmecha, auch durch den Glauben und etwaige daraus entstehende Ablehnung ergeben. „Ich habe den Eindruck, dass mehr Verständnis dafür aufgebracht wird, wenn Leute aus Glaubensgründen beispielsweise keine Regenbogenbinde tragen wollen. Warum eigentlich?“, fragt der Sportsoziologe Prof. Dr. Silvester Stahl von der Fachhochschule für Sport und Management Potsdam.
St. Paulis Christen würden Regenbogenbinde tragen
Praktizierende Christen gibt es auch bei St. Pauli. Der tiefgläubige Marcel Hartel beispielsweise besucht regelmäßig die Kirche, hätte als Mitglied des Mannschaftsrates aber überhaupt kein Problem damit, die Regenbogenbinde zu tragen.
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Gefahr eines Fehltritts besteht zudem bei historisch sensiblen Themen. „Die Spieler des FC St. Pauli erfahren mehr über die Geschichte und die Werte des Vereins durch Aktionen wie Stadtteilrundgänge, Besuche im Museum oder Hinweise auf Publikationen und Videos über den Club sowie seine Mitgliedschaft und Fans“, betont der Verein.
Geschichtsnachhilfe für Zalazar
Bei Bedarf gibt es Nachhilfeunterricht, den unter anderem Ex-Spieler Rodrigo Zalazar (23/Sporting Braga/Portugal) erhielt. Der Uruguayer hatte noch vor seinem Wechsel nach Hamburg seinen Geburtstag bei Instagram mit einem Foto verewigt, das ihn auf der Rampe zum Konzentrationslager Auschwitz zeigte und mit Party-Emojis versehen war.
Auch bei der Ausbildung im Nachwuchsleistungszentrum legt St. Pauli Wert auf einen ganzheitlichen Ansatz, um die Jugendlichen fußballerisch wie persönlich zu fördern. „Wir sind unter anderem stolz darauf, dass sich die U 19 engagiert hat, um der Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau zu gedenken“, sagt Pressesprecher Patrick Gensing.
Müssen sich Sportler politisch äußern?
Sind in der Öffentlichkeit stehende Sportler also in der Pflicht, sich politisch zu äußern? „Wenn ein Profi politisch nicht interessiert ist oder sich nicht öffentlich politisch äußern will, sollte das im Sinne einer umfassenden Meinungsfreiheit akzeptiert werden“, sagt Stahl, gibt aber zu: „Es ist ein Dilemma, eine angemessene Linie zu finden. Dafür gibt es kein Patentrezept.“
Der gebürtige Berliner rät den Vereinen, von vornherein im Diskurs mit Fans rote Linien zu erarbeiten, innerhalb derer sich Meinungen entfalten können. Wer ausschert, muss mit Sanktionen rechnen, so wie bei St. Pauli 2019 Cenk Sahin, dessen Vertrag aufgelöst worden war, nachdem der Türke die Militäroffensive seines Heimatlandes in Syrien gerühmt hatte.
"Entscheidend is auf'm Platz"
Die Positionsbestimmung sollte jedenfalls eine Daueraufgabe sein, erst recht für so einen profilierten Verein wie den FC St. Pauli. „Da der gesellschaftliche Diskurs fortschreitet, müssen die Vereine immer wieder aufs Neue zu definieren“, sagt Stahl. In 20 Jahren werden viele Positionen anders beurteilt als heute, glaubt der 49-Jährige.
In diesem Zusammenhang fast kurios, dass die 66 Jahre alte Fußballerweisheit des früheren Dortmunders Alfred Preißler „Entscheidend is auf'm Platz!“ noch immer das meiste Gewicht zu tragen scheint. Über Hollerbach war schon am Montag nichts mehr zu seiner politischen Orientierung zu lesen, sondern nach starkem Testspieldebüt stattdessen: „Hollerbach empfiehlt sich für mehr.“