Darmstadt. Die Kiezkicker erhöhen drei Spieltage vor Saisonende den Druck auf den HSV. Trainer Hürzeler legt die Zurückhaltung ab.

Den symbolischen Aufstieg vollzog Fabian Hürzeler kurz vor Mitternacht. Es war nur ein kleiner Schritt hinauf auf ein Kamerapodium im öden Darmstädter Presseraum für den Cheftrainer des FC St. Pauli, um dort die mitgereisten Hamburger Journalisten mit Zitaten zu entlohnen. Zu viel hinein interpretieren wollte ein schelmisch grinsender Hürzeler, als ihm die Symbolik gewahr wurde, nicht. Was auch überflüssig gewesen wäre, denn das 3:0 (1:0) St. Paulis zuvor am späten Sonnabend beim Zweitligaspitzenreiter SV Darmstadt 98 war Aussage genug.

FC St. Pauli: Kampfansage an den HSV

Den verbalen Aufstieg, wesentlich beachtenswerter, hatte der in Houston geborene Bayer ohnehin schon rund eine Stunde zuvor gewagt. „Nächste Woche kommt Düsseldorf. Das ist ein Verfolgerduell um Platz drei. Wenn wir da gewinnen, dann sind wir mindestens über Nacht einen Punkt dran, und dann schauen wir mal, was passiert“, formulierte Hürzeler, bis dato medial zwar mit erfrischend-verschmitzter Offenheit, aber eben auch drögem Understatement auffällig geworden, eine Kampfansage an den drittplatzierten HSV ins Sky-Mikrofon.

Was vorher passiert war, war eine schlichtweg schwer beeindruckende Machtdemonstration seines Teams. Darmstadts geplante Aufstiegsfeierlichkeiten in Fetzen fliegen lassen, den Hessen die erste Niederlage dieser Saison im heimischen Merck-Stadion am Böllenfalltor beigebracht, mit nunmehr 36 Punkten in der Rückserie den vereinsinternen Rekord für eine Halbserie eingestellt – es ließen sich beliebig weitere Fakten wie diese aufzählen. Doch expressiver war die Leistung St. Paulis.

Kiezkicker verderben Darmstadts Aufstiegsparty

Die Braun-Weißen ließen sich vom hohen gegnerischen Druck nicht irritieren, sondern hielten mutig an ihren Ideen einer spielerischen, „möglichst flachen“, so Hürzeler, Offensivinitiierung fest. Das wurde, zugegeben etwas glücklich, beim Eigentor von 98-Torjäger Phillip Tietz zum 1:0 nach einem Freistoß von Leart Paqarada belohnt (45.), nach dem Seitenwechsel dank drückender Überlegenheit aber völlig zurecht mit zwei weiteren Treffern durch Gipfelstürmer Elias Saad (57.) und Joker David Otto (84.). Im Übrigen jeweils vorbereitet von Lukas Daschner, einem der cleversten Raumdeuter der Zweiten Liga.

„St. Pauli verfügt über eine sehr komplexe Spielanlage“, sagte Darmstadts Trainer Torsten Lieberknecht anerkennend. Ausgerechnet Lieberknecht war es, der im Vorweg der für Zweitligaverhältnisse hochklassigen Partie gesagt hatte, St. Pauli sei mit offen kommunizierten Aufstiegsambitionen in die Saison gegangen, der dabei aber anscheinend mit einem anderen Hamburger Club durcheinander geraten war. Vom Aufstieg war auf dem Kiez nie die Rede. Zwischenzeitlich stattdessen sogar vom Abstieg, dann „von Spiel zu Spiel“, später vom „Prozess“, wie Hürzeler es gern nennt.

Showdown gegen Fortuna Düsseldorf

Von seinem System, seiner detailgetreuen Herangehensweise war er auch nach den zwischenzeitlichen Niederlagen gegen Eintracht Braunschweig (1:2) und beim HSV (3:4) nicht abgerückt. „Das waren Rückschläge vom Ergebnis, aber Fortschritte im Prozess. Mir hat gefallen, wie meine Mannschaft in diesen beiden Partien gespielt hat“, sagte Hürzeler – mit dem kleinen Schlupfloch, dass er dabei primär über die Offensive redete, die defensive Balance anschließend jedoch minimal austarierte.

Nun also Düsseldorf. Mit der Analyse des punktgleichen und nur um ein Tor schlechteren kommenden Gegners hatte Hürzeler bereits am Sonnabend begonnen. Während der 49-jährige Lieberknecht bei der Pressekonferenz in breitem Pfälzisch Fragen dazu beantworten musste, weswegen seine Mannschaft im Gegensatz zu King Charles III. am selben Tag ihre Krönung vorerst verschieben musste, blickte sein 19 Jahre jüngerer Kollege auf die TV-Monitore an der Wand, auf denen die Höhepunkte von Fortunas eindrucksvollem 3:0-Sieg gegen Holstein Kiel am Nachmittag gezeigt wurden, zog dabei regelmäßig Carlo-Ancelotti-gleich die Augenbraue hoch. Da kommt was auf St. Pauli zu.

St. Pauli muss auf HSV-Ausrutscher hoffen

Oder auf den Stadtrivalen? „Wir schauen erst mal auf uns und darauf, die nächsten drei Spiele zu gewinnen, darauf haben wir Bock. Und dann gucken wir mal, was der HSV macht“, sagte Mittelfelddauerläufer Marcel Hartel. Bei der Abreise vom Böllenfalltor wurde im Mannschaftsbus getanzt und gesungen. Alles im Fluss. Alles auf Aufstieg?

Um auch den sportlichen, nicht nur den symbolischen, verbalen und feierlichen, Aufstieg tatsächlich zu meistern, müsste aber selbst ein Hürzeler zaubern können. Wobei dies inzwischen gar nicht mehr so surreal erscheint. Notwendig wären dazu auch bei drei eigenen Siegen Patzer des HSV sowie die schwierige Relegation. Dennoch: Hürzeler arbeitet bislang so gut, dass er sich wenig überraschend binnen eines halben Jahres in die Notizbücher mehrerer Bundesligisten geschrieben haben dürfte. Aber vielleicht coacht er so oder so bald einen.