Hamburg. Keine Konzepte? St. Pauli kritisiert den bei Fans und Mannschaft so beliebten Trainer. Die Suche nach einem Nachfolger führt nach Bremen.

Was der FC St. Pauli am Dienstag um 11.44 Uhr vermeldete, war letztlich so überraschend wie das Befüllen eines Nikolausstiefels am 6. Dezember. Zu viel hatte in den vorangegangenen Tagen in der Szene darauf hingedeutet, dass Cheftrainer Timo Schultz von seinen Aufgaben entbunden wird.

Die Nikolausüberraschung kam dennoch in Form dessen, was sich in der Pressemitteilung als symbolischem Stiefel befand. Oder besser gesagt: der Art und Weise, wie sie verpackt war.

Warum sich St. Pauli von Timo Schultz trennt

Zunächst zu den harten Fakten: Schultz wird freigestellt. Einzig und allein aus sportlichen Gründen. Mit dem 45-Jährigen muss auch Co-Trainer Loïc Favé (29) gehen. Der Franzose galt als engster Vertrauensmann von Schultz.

Sein gleichaltriger Assistenztrainerkollege Fabian Hürzeler, dem St. Pauli die Ausbildung zum Fußballlehrer sponsert, darf dagegen nicht nur bleiben, sondern übernimmt sogar vorerst die Leitung der Mannschaft, die an diesem Freitag in Teil eins der Vorbereitung auf die am 29. Januar beim 1. FC Nürnberg beginnende Rückrunde startet.

Keine Konzepte? Bornemann kritisiert Schultz

Nun zum pikanten Kern: Dass Schultz wegen der ausbleibenden Entwicklung im Kalenderjahr 2022, in dem zunächst der Aufstieg verspielt wurde, dann der Absturz auf Rang 15 folgte, entlassen wird, lässt sich durchaus begründen. Zwar kommt gelegentlich auch Kritik an Sportchef Andreas Bornemann, der den Kader, mit dem Schultz arbeiten musste, zusammengestellt hat, auf. Es ist jedoch auch so, dass die Mannschaft auf dem Papier wesentlich stärker besetzt ist als der Tabellenplatz, auf dem sie sich wiederfindet.

Die Formulierung der Begründung gleicht jedoch in ihrer Deutlichkeit einem sportlichen Verdikt und einer vorauseilenden Rechtfertigung zugleich: „Wir haben seit Längerem verschiedene Muster bei den sportlichen Problemen erkannt, dazu gehören die fatale Auswärtsschwäche, eine fehlende Balance zwischen Defensive und Offensive, mangelnde Weiterentwicklung, aber auch die fehlende Fähigkeit, Spiele nach Rückstand zu drehen. Da hätten wir uns neue Ansätze gewünscht, wie die kontinuierlichen und saisonübergreifenden Probleme abgestellt werden sollten“, wurde Bornemann zitiert.

Die Gespräche nach dem Ende der Hinrunde hätten keine ausreichenden Ansatzpunkte für neue Konzepte gebracht. Ergo: St. Pauli spricht Schultz die Kompetenz ab, die Wende einzuleiten.

Pikant: St. Pauli verzichtet auf Schultz-Zitat

Festzuhalten ist zudem, dass das angespannte Verhältnis zwischen Ex-Trainer und Sportchef endgültig zerrüttet scheint. Einen scheidenden Coach derartig direkt zu kritisieren, ist in der von drögen Floskeln dominierten Branche ungewöhnlich. Dass Schultz nach seiner Ära im Verein in der Pressemitteilung nicht zu Wort kommt, ist bezeichnend. Offenbar konnten sich beide Seiten nicht auf ein PR-Statement einigen.

Ebenso steht nun fest: Bornemann ist hinter Göttlich der starke Mann beim FC St. Pauli. Das Präsidium und der Aufsichtsrat folgten geschlossen der Empfehlung des 51-Jährigen, den Trainerwechsel zu vollziehen, und sind vollends von seiner Expertise überzeugt.

Timo Schultz hat die Mannschaft hinter sich

Die Demission von Schultz war für die Vereinsführung aller sportlichen Probleme zum Trotz nicht einfach. Nach 17 Jahren im Verein, in denen der Ostfriese zunächst als beinharter Mittelfeldspieler der Bundesligaaufstiegsmannschaft von 2010 angehörte, später im Nachwuchsbereich und seit Sommer 2020 als der Trainer der Profis arbeitete, hat der dreifache Vater enorme Sympathien angehäuft.

Schultz ist liebenswürdig, ein empathischer Menschenfänger, der bis zuletzt den Rückhalt seines Teams genoss. Kapitän Leart Paqarada bedankte sich stellvertretend für die Mannschaft via Instagram bei ihm und Favé: „Workaholics, Fachmänner und der Inbegriff von ,meine Tür steht wirklich immer offen’. Das nehmen wir, alle Jungs, auf unsere Kappe.“

Göttlich beklagt: St. Pauli wie ein Absteiger

Präsident Oke Göttlich, der St. Paulis sportliche Situation zuletzt mehrfach – auch öffentlich – kritisiert hatte und dabei Timo Schultz in die Pflicht nahm, sagte: „Timo ist ein verdienter und echter St. Paulianer und wird immer am Millerntor willkommen sein.“ Es folgte das große Aber: „Wir müssen das Gesamtwohl des FC St. Pauli immer im Blick haben – und unsere sportliche Bilanz im Kalenderjahr 2022 ist die eines Absteigers. Das muss sich umgehend und nachhaltig ändern, damit wir alle Maßnahmen ergreifen, um die Klasse zu halten“, sagte Göttlich, auf den sich der Zorn des Fanvolkes ebenso entlud wie auf Bornemann.

So sehr können Fotos täuschen: St. Paulis Präsident Oke Göttlich (r.) kritisierte die Arbeit von Timo Schultz zuletzt öffentlich.
So sehr können Fotos täuschen: St. Paulis Präsident Oke Göttlich (r.) kritisierte die Arbeit von Timo Schultz zuletzt öffentlich. © Witters

Das war angesichts der eindeutig verteilten Sympathien und Emotionalität zu erwarten. Die Reaktionen auf das Schultz-Aus waren fast ausschließlich negativer Art. Teils derbe, wie die von Frank Tamaschke, der 2014 für den Aufsichtsrat kandidierte: „Dieses Präsidium und dieser Sportchef sind wirklich das allerletzte!!! Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen könnte.“

Teils eloquenter, aber inhaltlich ebenso scharf, wie vom Ex-St.-Paulianer Florian Bruns, der als Co-Trainer beim SC Freiburg arbeitet und gut mit Schultz befreundet ist: „Lieber FC St. Pauli, das ist eine verdammt schlechte Entscheidung! Sehr, sehr bedauerlich!“

Treffen mit Bornemann: Folgt Kohfeldt auf Timo Schultz?

Die Suche nach einem Nachfolger ist selbstverständlich längst angelaufen. Bereits in der vergangenen Woche gab es erste Hinweise darauf, dass St. Pauli den Trainermarkt sondiert. Konkrete Verhandlungen wurden, solange Schultz offiziell noch im Amt war, zwar nicht aufgenommen, Gespräche aber geführt. Spätestens zu Beginn des Trainingslagers im spanischen Benidorm am 2. Januar soll der neue Chef feststehen, solange leitet Hürzeler die „Vorbereitung zur Vorbereitung“.

Ein persönliches Treffen soll nach Abendblatt-Informationen bereits zwischen Bornemann und Florian Kohfeldt stattgefunden haben. Dessen Beratungsagentur „projekt b“ ließ auf Anfrage lediglich nichtssagend-vielsagend ausrichten: „Kein Kommentar, dazu können wir uns nicht äußern.“

Der aktuell noch in Bremen lebende Ex-Werder-Trainer Florian Kohfeldt gilt bei St. Pauli als Kandidat auf die Nachfolge von Timo Schultz.
Der aktuell noch in Bremen lebende Ex-Werder-Trainer Florian Kohfeldt gilt bei St. Pauli als Kandidat auf die Nachfolge von Timo Schultz. © Imago / Nordphoto

Kohfeldt hatte zuletzt von Oktober 2021 bis Mai diesen Jahres den Bundesligisten VfL Wolfsburg trainiert, dort aber nicht nachhaltig überzeugt. Ebenso wie bei seinem Heimatclub Werder Bremen, bei dem der 40-Jährige ähnlich wie Schultz – exklusive der Laufbahn als aktiver Spieler – sukzessive in höhere Trainerpositionen aufstieg und von 2017 bis 2021 die Profis in der Bundesliga coachte. Zunächst mit Erfolg, in den finalen zwei Jahren geriet Werder jedoch ins Strudeln. Den Abstieg in der Saison 2020/21 hatte Kohfeldt, der vor dem letzten Spieltag freigestellt wurde, mitzuverantworten. Dennoch: Sein sportlicher Leumund ist weitgehend intakt. Das Problem: Nach fünf Jahren als Bundesligatrainer wäre der derzeitige TV-Experte teuer.

St. Pauli sucht den neuen Timo Schultz

Ebenfalls in Blickfeld der Hamburger soll Michael Wimmer geraten sein. Der 42 Jahre alte Niederbayer hatte zuletzt interimsweise den VfB Stuttgart betreut, dort aber nach der Verpflichtung Bruna Labbadias als Cheftrainer seinen Abschied verkündet – um selbst dauerhaft ein Team in leitender Position zu betreuen. Der Draht zu Bornemann ist heiß. Wimmer war Trainer im Nachwuchsbereich des 1. FC Nürnberg zur Zeit, als Bornemann bei den Franken als Sportchef arbeitete.

Zwei überraschende Namen, mit dem sich St. Pauli ernsthaft befassen würde, wurden dieser Zeitung im Lauf des Dienstags noch zugespielt: Zum einen der von Thomas Stamm. Der 39-jährige Schweizer arbeitet seit eineinhalb Jahren sehr respektabel beim Drittligafünften SC Freiburg II – und damit, in diesem Fall aber rein zufällig, der alten Heimat Bornemanns. Allerdings bestünde bei Stamm die Problematik, ihn aus einem laufenden Vertrag herauskaufen zu müssen. Gleiches gilt für Horst Steffen (53), der den saarländischen Provinzclub SV Elversberg binnen vier Jahren aus der Regionalliga an die Spitze der 3. Liga geführt hat.

Welchen Trainer St. Pauli auch aus dem Stiefel zaubern mag, er wird es schwer haben: sportlich wie emotional. Als Nachfolger von Schultz wird ihn die Fanszene nicht direkt als Geschenk ansehen.