Hamburg. Der ehemalige Profi des FC St. Pauli reiste für eine TV-Produktion ins WM-Gastgeberland. Was er vor Ort erlebt hat.
Benjamin Adrion ist zu Hause, was in seinem Fall Kapstadt in Südafrika ist. Und was für den 41-Jährigen derzeit eine Ausnahme ist. Denn Adrion war viel unterwegs. Hamburg, Berlin, München, Zürich und schließlich Doha. Dorthin, in die Hauptstadt von Katar, wo am Sonntag die Fußball-Weltmeisterschaft beginnt, wollte der ehemalige Profi des FC St. Pauli unbedingt. Nicht als Tourist oder Fußballfan, sondern als Dokumentarfilmer für die 77 Minuten lange Pro7-Produktion „Das Milliardenspiel: Die verkaufte WM“.
Millerntalk-Podcast: Adrion berichtet über Flut von Eindrücken aus Katar
„Für mich war es wichtig, auch nach Doha zu fahren“, sagt Adrion im Abendblatt-Podcast „Millerntalk“, „weil man die ganze Zeit über ein Land redet und mit dem Finger darauf zeigt, ich aber zumindest einen kurzen eigenen Eindruck erhalten wollte.“ Doch der Gründer der Non-Profit-Organisation Viva con Agua, die sich unter anderem für den Zugang zu sauberem Trinkwasser einsetzt, bekam nicht nur einen Eindruck, sondern eine Flut von Eindrücken. Einige davon erwartbar, andere überraschend.
Denn, während sich die Situation in Katar von außen so simpel einzuordnen lassen scheint, sorgt ein interner Blick für ein durchaus differenzierteres Bild. Was Adrion nicht falsch verstanden wissen will: „Alle kritisieren Katar zu Recht und richtigerweise. Kritik ist für mich vor allem dann wirksam, wenn sie auf Fakten basiert. Im Moment, in dem man übers Ziel hinausschießt oder aus Wut vielleicht Dinge zitiert, die dann nicht mehr ganz stimmen, wird diese Kritik entwertet, was sie letztendlich wirkungslos macht.“ Daher war es dem gebürtigen Stuttgarter wichtig, in seiner Dokumentation ein einigermaßen ausgewogenes Bild des arabischen Staats zu zeichnen.
Was für den früheren Mittelfeldspieler, der zehn Länderspiele mit der Juniorennationalmannschaft absolvierte und seine Karriere schon mit 25 Jahren aus freien Stücken beendete, nicht verhandelbar ist, sind freilich die offen zu Tage tretenden Missstände im Katar – Stichworte Menschenrechte, Homophobie, Ausbeutung von Gastarbeitern. Adrion mahnt jedoch, nur mal in der eigenen deutschen Geschichte ein paar Jahre zurückzublicken, um vom hohen moralischen Ross herabzusteigen. „1993 waren homosexuelle Handlungen in Deutschland noch immer strafbar“, sagt er. Anderes Beispiel: Dass 15.000 Menschen auf WM-Baustellen gestorben seien, sei faktisch falsch. Tatsächlich seien diese Menschen seit der WM-Vergabe 2010 auf allen Baustellen im Emirat ums Leben gekommen.
Nachhaltige Entwicklung dank der WM? Adrion ist skeptisch
Während der Podcastaufnahme überrascht Vater Rainer Adrion, Vizepräsident des VfB Stuttgart, seinen Sohn mit einer Videobotschaft und will wissen, ob Adrion Junior im Zug seiner Recherchen herausgefunden habe, ob eine Besserung der gesellschaftlichen Situation im Katar eingetreten sei. „Ich glaube schon, dass was passiert ist. Natürlich muss man sehen, wie nachhaltig die Entwicklungen sind. Aber Katar hat auch über die WM hinaus Interesse, Großveranstaltungen bei sich stattfinden zu lassen. Die wollen internationale Touristen ins Land holen. Und dafür müssen sie einfach diese unangenehmen Themen adressieren. Aber es ist schwierig. Es ist ein muslimisches Land, das geht ja nicht im Handumdrehen. Wir haben es hier mit Jahrhunderte alten Traditionen und Kulturen zu tun“, antwortet der zweifache Vater.
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Der Quell allen Übels, der zu dieser WM überhaupt erst geführt hat, sei sowieso zweifellos der Weltverband Fifa. Wie tief der Sumpf der Korruption ist, welche Abgründe sich auftun, wie Adrion unter anderem im Gespräch mit der Whistleblowerin Bonita Mersiades herausfindet, ist für ihn entsetzlich. Das vermutlich Schlimmste daran: Eigentlich überrascht das nicht einmal.
Ex-St-Pauli-Profi Adrion hat Verständnis für Verzicht auf WM-Boykott
Wobei Überraschungen für Adrion während seiner Dokumentationstour an der Tagesordnung waren. So bekam er vom Ex-Nationalmannschaftskapitän Philipp Lahm die unmissverständliche Absage, das Turnier im Katar zu besuchen. Ähnlich deutliche Zeichen erhofft sich der Wahl-Südafrikaner, der 2023 zur Eröffnung der „Villa Viva“ mit der Familie wieder nach Hamburg ziehen wird, von den aktuellen Spielern: „Ich erwarte schon, dass man die Grenzen der Fifa-Verbote auslotet und sie herausfordert, um seine Meinung zu äußern. Gleichzeitig muss man den Spielern zugestehen, sich hauptsächlich auf den Sport zu konzentrieren. Man kann nicht von diesen Personen, die zum Zeitpunkt der Vergabe noch größtenteils minderjährig waren, erwarten, dass sie auslöffeln, was die Fifa vergeigt hat. Ich habe Verständnis dafür, dass niemand die WM boykottiert.“
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