Hamburg. Der australische Kapitän hat in Hamburg nicht nur sportlich eine Heimat gefunden. Für seine politischen Überzeugungen tritt er aktiv ein.

Am Dienstag hat Jackson Irvine das Training beim FC St. Pauli ungefähr nach der Hälfte der Zeit beendet. Kein Grund zur Sorge, ohne irgendwelche Anzeichen einer Blessur verließ der Australier den Platz an der Kollaustraße Richtung Kabine – Belastungssteuerung.

Bevor er verschwand, schnackte er noch längere Zeit mit einem jungen Fan und stellte sich schließlich für ein Selfie auf. Kein Ding, Berührungsängste mit den Anhängern hat er nicht, warum auch?

St. Paulis Irvine: zu Fuß zum Spiel, mit Bus und Bahn zum Training

Irvine geht nach den Heimspielen schließlich zu Fuß nach Hause in seine Wohnung nahe der Sternschanze, schaut in der Freizeit gerne mal im Jolly Roger und dem Molotow Club vorbei und fährt mit Bahn und Bus zum Training nach Niendorf – alles schon erzählt, immer noch ungewöhnlich. „Fans erkennen mich, lassen auch ab und an einen netten Spruch los, aber meist sehen sie mich zuerst als Menschen und nicht als Fußballspieler“, erzählt er.

Dass er als Fußballspieler und damit als Vorbild für viele aber auch eine besondere Verantwortung hat, das ist dem 29-Jährigen völlig bewusst. Am vergangenen Freitag veröffentlichte der australische Verband als erster der an der WM in Katar teilnehmenden Verbände eine offizielle Stellungnahme des Teams zur Menschenrechtssituation in dem Golfstaat auf einem Video. „Alle waren bereit, bei der öffentlichen Erklärung mit- und unsere Position klarzumachen“, sagte Irvine dem „Sydney Morning Herald“.

Irvine war Mitinitator eines Katar-kritischen Videos

Zahlreiche Nationalspieler haben dort in einem schwarz-weiß gehaltenen Film von drei Minuten Länge die Haltung der „Socceroos“ unmissverständlich erklärt. Sie loben zwar auf der einen Seite, dass es Fortschritte bei der Situation für die Arbeiter gegeben habe, stellen aber fest, dass immer noch zahlreiche Themen wie zum Beispiel die Rechte von LGBTQ-Menschen und der Arbeitsmigranten nicht befriedigend geklärt sind.

„Wir haben gelernt, dass die Entscheidung, die WM an Katar zu vergeben, zu Leid und Schaden für Tausende Arbeiter geführt hat“, sagt Irvine in einem seiner drei Spots in dem Video. „Gelernt“ haben die australischen Spieler über die Zustände in dem Emirat in zahlreichen Gesprächsrunden mit Vertretern des Weltverbandes Fifa, WM-Organisatoren, Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International und Vertretern von Arbeitsmi­granten, die von der australischen Spielergewerkschaft PFA und später dem australischen Fußballverband organisiert wurden. „Die PFA hat bei uns ein Bewusstsein für dieses Turnier und die Entwicklungen in dem Land geschaffen“, sagt Irvine.

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Mit Mannschaftskapitän Mathew Ryan (30/FC Kopenhagen) und Abwehrspieler Bailey Wright (30/ AFC Sunderland) war er einer der Hauptinitiatoren. „Die Gespräche insbesondere direkt mit den Arbeitsmigranten haben viele Dinge für viele in unserer Gruppe geändert“, denkt Irvine.

Ein Boykott der WM ist für ihn jedoch undenkbar. Das würde auch nichts an der Menschenrechtssituation im Land ändern, eher im Gegenteil: „Wir spielen, wir sind da, und wenn wir da sind, können wir Dinge thematisieren.“ Also wird er dem Ruf von Nationaltrainer Graham Arnold folgen. Mit 49 Länderspielen zählt er zu den erfahrensten Spielern im Team.

Der Mann aus Melbourne, der mit 17 seine australische Heimat verlassen hatte, um seine Fußballausbildung bei Celtic Glasgow fortzusetzen, war schon immer jemand, der sich Gedanken um die Welt und ihren Zustand macht. Dabei macht er auch vor Kritik am eigenen Land nicht halt: „Unsere Behandlung der indigenen Bevölkerung ist historisch inakzeptabel.“

Irvine lobt St. Paulis Haltung

Dass der leidenschaftliche Hobbygitarrist nun seit Sommer 2021 beim FC St. Pauli spielt, ist fast zu schön, um wahr zu sein. Für beide Seiten. „Ich finde es richtig gut, dass sich der Club auch klar politisch positioniert und Stellung bezieht“, sagt Irvine, „es gibt hier keine leeren Worte, sondern die gesellschaftlichen Werte lebt der Verein tatsächlich jeden Tag.“

Das erleichtere ihm auch, selbst politisch Stellung zu nehmen. Andere Kollegen, die bei Großclubs mit weltweiten geschäftlichen Verbindungen tätig sind, müssten da eventuell zurückhaltender sein. „Aber die Kritik an Katar hat nichts mit Politik zu tun, es geht nicht um links oder rechts“ sagt er, „es geht um Menschenrechte.“

Irvine kommt dem Idealtyp des St.-Pauli-Profis sehr nahe

Sportchef Andreas Bornemann erinnert sich an eines der ersten Gespräche vor der Vertragsunterzeichnung im vergangenen Jahr: „Wir hatten schnell ein Gefühl füreinander. Er erinnerte sich noch an das Freundschaftsspiel 2014 mit Celtic am Millerntor und war total geflasht von der Aussicht, bei uns zu spielen. Es war erstaunlich, wie gut er über den Club Bescheid wusste.“

Bornemann legt natürlich Wert darauf, dass eine Verpflichtung zunächst immer aus sportlichen Gründen erfolgt – und nicht von der Marketingabteilung entschieden wird. Aber wenn, also nur mal als Gedankenspiel, die PR-Abteilung sich einen idealen Fußballer für den Club basteln könnte, Irvine wäre nahe dran.

Und weil bislang alles so gut passt, sportlich und überhaupt, haben beide Seiten Mitte Oktober den bis 2024 laufenden Vertrag vorzeitig verlängert. Natürlich verbunden mit einer Gehaltserhöhung.

„Es bedeutet mir viel, dass der FC St. Pauli mich als Teil seiner Zukunft sieht, denn ich fühle mich im Verein und in der Stadt unglaublich wohl“, erklärte Irvine. Der Mittelfeldspieler soll als ein Säulenspieler ein fester Teil von St. Paulis sportlicher Zukunft werden: „Er nimmt Einfluss dadurch, wie er auf dem Platz agiert“, sagt Bornemann, „und welche Akzeptanz er im Team hat, hat man ja auch bei der Wahl zum Mannschaftsrat gesehen, als er mit Leart Paqarada die meisten Stimmen erhalten hat.“

Folgerichtig ist Irvine gemeinsam mit dem linken Außenspieler Co-Kapitän und nimmt diese Rolle komplett an. Verantwortung übernehmen, für etwas einstehen, so ist er halt. „Ich kann nicht mehr von der Gruppe fordern, kann nicht genug über Mentalität und Herz sagen“, erklärte er nach dem 1:1 gegen Darmstadt 98 am Sonnabend in echter Kapitänsmanier, „das Wichtigste ist die Leistung – die Ergebnisse werden folgen.“