Hamburg. Der „Millernton“-Chefredakteur Tim Eckhardt spricht über zahlenbasierte Analysen und die Taktik des Hamburger Kiezclubs.
Es ist sein „zweites Leben“, das er mit seinem ersten verheiratet hat, das Tim Eckhardt zum glücklichen Arbeitslosen machte. Raus aus Sibirien, rein ins Millerntor-Stadion. Oder auch: Komm unter meine Decke. Meine Uwe-Bahn-Decke. Denn Eckhardt wollte schon immer Sportjournalist werden. „Übertrieben ausgedrückt, habe ich als Kind in Sportjournalistenbettwäsche geschlafen, keine NDR-2-Bundesligashow mit Uwe Bahn verpasst“, sagt der heute 36-Jährige – der stattdessen Geowissenschaftler wurde.
Seine Promotion erwarb der Hamburger, indem er Kohlenstoffmessungen im sibirischen Permafrost durchführte. Doch nach vier Jahren als Wissenschaftler wollte Dr. Eckhardt lieber wieder in dem Bereich forschen, den er seit seiner gescheiterten Karriere als Landesliga-Libero schmerzlich vermisst hat: dem Fußball.
FC St. Pauli: Eckhardt Chefredakteur beim „Millernton“
Eckhardt stieg beim „Millernton“, einem Fanblog und -podcast des FC St. Pauli, ein, ist seit dem vergangenen Jahr hauptberuflich dessen Chefredakteur und behauptet: „Wenn ich morgens zur Arbeit radele, schäme ich mich fast, das zu sagen. Ich würde es gar nicht Arbeit nennen, was ich mache, weil es mir so viel Freude bereitet.“ Mit dieser Geschichte würde sich der dreifache Vater durchaus fürs „Menschlich gesehen“ auf der Titelseite dieser Zeitung, keineswegs jedoch für den Sportteil empfehlen.
Doch da ist ja noch Eckhardts erstes Leben, aus dem er Teile in sein zweites hinübergerettet hat. „Die Datenaffinität ist geblieben, es macht mir wahnsinnig viel Spaß, Zahlen zu sammeln, sie zu analysieren und darzustellen“, sagt er im Abendblatt-Podcast „Millerntalk“. Für seine Artikel trägt Eckhardt unzählige Datenpunkte unterschiedlicher Scoutingprogramme zusammen, die er schlüssig erläutert und anschaulich präsentiert. Zumeist in Radargrafiken.
Eckhardt von Sportchefs der Zweiten Liga kontaktiert
Dies gelingt dem St.-Pauli-Fan – der als kleiner Junge mal Anhänger des damals einzigen Hamburger Bundesligisten war, das aber nicht erzählen möchte – so gut, dass er mittlerweile von Sportchefs der Zweiten Liga kontaktiert wird mit der Bitte um eine datenbasierte Einschätzung von Spielern. „Zuletzt sollte ich meine Meinung zu einem möglichen Transfer eines Konkurrenten des FC St. Pauli abgeben. Meine Zahlen haben ergeben, dass der Club angesichts seiner Planungen mit besagtem Akteur Abstand von einer Verpflichtung nehmen sollte. Sie haben ihn dann auch nicht geholt“, sagt Eckhardt, der dafür einen Urlaubstag am Strand opferte.
Wer aber einst 400 Minuten am Tag Kohlenstoffmessungen durchgeführt hat, bei denen pro Sekunde 109 Datenpunkte erhoben wurden, ist so schnell von nichts mehr zu schocken. In dieser Zeit lernte der Naturwissenschaftler das sinnvolle Programmieren und Gruppieren von Daten, was ihm nun enorm hilft. Denn eines steht für Eckhardt fest: „Wir Zahlenfreaks sind raus aus der Nerdecke. Es hat sich wahnsinnig viel getan, und Datenanalysen werden noch deutlich stärker Einzug im Fußball erhalten.“
"Der Zufall lässt sich nicht indexieren"
Insbesondere in England sei man der Entwicklung um „drei Schritte“ voraus. „Die Vereine dort beschäftigen riesige Analyseabteilungen. Der des FC Liverpool steht beispielsweise der theoretische Physiker William Spearman vor“, sagt Eckhardt. Ein gutes Beispiel für die Relevanz von Datenanalyse im Fußball seien Standardsituationen. Zweitligist Karlsruher SC habe auf Basis von Zahlen in den vergangenen Jahren interessante Eckballvarianten ausprobiert, und „Einwürfe sind das nächste, große Ding, das den Profifußball beeinflussen wird“, schätzt Eckhardt, der sich allerdings nicht als kalter Zahlenhengst, sondern emotionaler und manchmal auch romantisierender Fan verstanden wissen möchte.
„Das Schönste für mich ist, dass etwas mehr als 50 Prozent im Fußball immer dem Zufall entspringen werden, und der lässt sich nicht indexieren. Es wird also nie eine Zahl geben, die das Ergebnis des nächsten Spiels mit Gewissheit voraussagen kann.“
Daten beim Scouting besonders nützlich
Aber, wenn wir schon beim Thema Standards waren. Dieses veranschaulicht gut, auf welchem Gebiet Daten besonders nützlich sein können: beim Scouting. „Die meisten Fans glauben, Cristiano Ronaldo sei ein begnadeter Freistoßschütze. Tatsächlich ist er aber bestenfalls ein mittelmäßiger. Unser Gehirn macht Fehler bei der Beobachtung, selbst das von Scouts. Sie können nicht endlos viele Daten einsammeln, sollten diese aber als Hilfe nutzen“, erzählt Eckhardt.
Besonders interessiert ihn, was die numerischen Helfer über den FC St. Pauli sagen. Aber nicht nur ihnen, sondern auch seinen Augen vertraut Eckhardt hierbei. Denn neben der Datenanalyse ist Taktik die zweite große Leidenschaft des Journalisten. Autodidaktisch hat er sich in der vergangenen Dekade Fachkenntnisse angeeignet. „St. Pauli ist ein wenig zu unflexibel über das 4-4-2 mit Mittelfeldraute hinaus“, sagt Eckhardt, sieht dies aber nur bedingt kritisch.
"Ich fände aber auch ein 3-5-2 spannend“
„Trainer Timo Schultz spricht immer von der Sicherheit der einen Formation, daher verstehe ich diesen Ansatz, fände aber auch ein 3-5-2 spannend“, meint Eckhardt, der dann kaum noch einzufangen ist, wenn er – auch für Fachfremde verständlich – von Zielspielern, breitziehenden Zehnern und Schienenspielern spricht. Er könne es jetzt schon kaum erwarten, mit welchem System St. Pauli gegen Tabellenführer SC Paderborn spiele.
Nur ein wenig länger als auf die Begegnung gegen Paderborn müssen Fans der Braun-Weißen nach Ansicht von Eckhardt auf den Durchbruch mehrerer Talente des Teams warten. „Es gab noch nie einen Kader, der so viel Potenzial besitzt. Wir reden hier nicht von einem oder zwei Spielern, die es in die Bundesliga schaffen können, sondern von fünf, sechs, sieben, wenn bei ihnen der Knoten platzt.“
FC St. Pauli: Eckhardt liefert Live-Taktikanalyse
Insbesondere Innenverteidiger David Nemeth (21) und Stürmer Johannes Eggestein (24) stehen bei Eckhardt hoch im Kurs. „Nemeth ist sehr robust und hat für sein Alter eine fast schon bedenkliche Abgeklärtheit am Ball. Eggestein sieht zwar nicht aus wie ein Profisportler, besitzt aber das kaum zu trainierende Talent, sich in Abschlusspositionen zu bringen, das auch eine Liga höher funktioniert.“
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Bevor er darüber einen Artikel verfasst, hat Eckhardt am Sonnabend um 12 Uhr aber eine andere Aufgabe: Live-Taktikanalyse im „Studio 1910“. Sich einmal fühlen wie Uwe Bahn. Nicht in Sibirien. Sondern in der Loge des Millerntor-Stadions.