Hamburg. Für den Trainer von Darmstadt 98 endet die Menschlichkeit nicht an der Kabinentür. Von einem Vulkan, der schon immer ein Vorbild war.
In Braunschweig erzählt man sich noch heute die Geschichte, wie vor etwa zwölf Jahren der Erfolgstrainer der Eintracht in seiner Freizeit mit dem talentierten Jungen aus dem Nachbarhaus auf der Straße gekickt hat. Tipps hatte er für den Lütten auch parat: „Spiel mal die Bälle lieber so und so.“ Und das tut er heute noch – oder wieder: Cheftrainer Torsten Lieberknecht betreut inzwischen den einstigen Nachbarsjungen Philipp Tietz (24) in der Profimannschaft von Darmstadt 98.
Die alte Story zeigt nicht nur, dass die Welt klein ist, sondern auch, was für ein bodenständiger Normalo-Typ dieser Torsten Lieberknecht ist. Natürlich spielt er mit einem Kind, wenn es passt. Warum auch nicht? Und warum sollte es im Job anders sein? „Mir geht es darum, dass sich die Mannschaft als eine große Familie empfindet, die trotzdem auch Profisport betreibt“, sagt der 48-Jährige.
Bundesliga: Lieberknecht bei Spiel in Hamburg gesperrt
An diesem Sonnabend (20.30 Uhr/Sky und Sport1) tritt Darmstadt am Millerntor im Kampf um den Bundesliga-Aufstieg gegen den FC St. Pauli zum Duell des Dritten gegen den Vierten an. Es ist ein großes Spiel, mindestens ein bedeutendes: Die Gastgeber können mit einem Sieg die Hessen auf fünf Punkte distanzieren, Darmstadt kann mit einem Dreier an St. Pauli vorbeiziehen.
Doch Lieberknecht darf dann nicht auf der Bank der Hessen sitzen und direkten Einfluss am Spielfeldrand nehmen – und ist sauer darüber. Er ist nach seiner fünften Gelben Karte aus der Partie gegen Schalke 04 (2:5) gesperrt. „Bei mir bereiten sich die Schiedsrichter darauf vor, dass ich bei der ersten Situation, in der ich mich berechtigt aufrege, eine Gelbe Karte kriege“, klagte der Pfälzer: „Ich bin null einverstanden.“
„Er hat eine hohe Sozialkompetenz"
Klartext – da haut auch mal einer etwas raus, ohne an die Diplomatie zu denken. Das mag dem DFB nicht immer gefallen, es schafft aber Glaubwürdigkeit und Nähe im Team und zu den Fans. Dass Darmstadt so erfolgreich in dieser Saison unterwegs ist, hat nach Beobachtung von 98-Insidern viel mit Lieberknechts Umgang zu tun. „Er hat eine hohe Sozialkompetenz, nimmt jeden in der Mannschaft ernst“, sagt Stephan Köhnlein vom „Lilien-Blog“.
Dass Menschlichkeit nicht an der Kabinentür endet, hat Lieberknecht kürzlich wieder bewiesen. Bei seiner Frau und den drei Kindern, die im Familienhaus in Ratingen leben, ist vor vier Wochen eine ukrainische Mutter mit ihrem Sohn eingezogen: „Bei der Familie Lieberknecht stehen die Türen offen für jeden Flüchtling, der Hilfe braucht“, sagte er. „Das ist unser Beitrag.“
Auch Timo Schultz schätzt Lieberknecht
Der ehemalige St.-Pauli-Kapitän Fabian Boll hatte vor acht Wochen im Abendblatt die Geschichte erzählt, wie Lieberknecht ihn 2012 auf das Schicksal von Bjarne Koppetsch aufmerksam gemacht hatte, eines an Leukämie erkrankten Braunschweiger Jungen. Koppetsch war ein Mannschaftskamerad von Lieberknechts Sohn und großer St.-Pauli-Fan, er wünschte sich in der Klinik Bolls Trikot. „Torsten hat mich dann in der Halbzeit unseres Spiels bei der Eintracht gefragt“, erinnerte sich Boll. Natürlich gab es das Trikot.
St. Paulis Cheftrainer Timo Schultz schätzt den Kollegen ebenfalls sehr: „Er ist sehr sympathisch, wir sind uns seit 20 Jahren immer wieder über den Weg gelaufen. Es macht Spaß, gegen ihn zu spielen. Er ist immer ehrlich und geradeheraus.“ Lieberknecht war 2003 als Spieler aus Saarbrücken nach Braunschweig gekommen. Nach seinem Karriereende 2007 übernahm er die U-23-Mannschaft der „Löwen“ und schon 2008 die Profis, die er aus der Dritten Liga bis in die Bundesliga führte. Erst nach dem überraschenden Zweitliga-Abstieg endete seine Trainerkarriere in Braunschweig 2018.
Lieberknecht unterschrieb im Sommer 2021 in Darmstadt
Nach zweieinhalb Jahren in Duisburg und einem halben Jahr Arbeitslosigkeit unterschrieb Lieberknecht im Sommer 2021 in Darmstadt. Ein alter Bekannter aus Braunschweig hatte ihn bei Sportchef Carsten Wehlmann empfohlen. Es scheint gleich „Klick“ gemacht zu haben. „Ich will authentisch vermitteln, dass ich dafür brenne, für diesen Verein an der Seitenlinie zu stehen“, sagte er bei seiner Vorstellung im Sommer.
Schon im September trat Lieberknecht dem Verein bei. Das Umfeld, die Identifikation der Fans mit dem Club, die attraktive, aber nur mittelgroße und unaufgeregte Stadt – das passt offenbar alles. „Ich sehe den SV Darmstadt 98 nicht als Sprungbrett für irgendetwas“, sagt Lieberknecht: „Meine Haltung und Wertevorstellung sind, dass ich die Verträge, die ich unterschreibe, auch immer erfüllen will.“
Bundesliga: Lieberknecht wird Ansprache halten
Gesagt, getan: Am Mittwoch verlängerte der Trainer seinen Vertrag bei den „Lilien“ zu diesem Zeitpunkt überraschend vorzeitig um zwei Jahre bis 2025. Im Kampf um den Aufstieg ist das jedoch auch ein starkes Signal des Coaches. „Torsten und allen Verantwortlichen hier ist es wichtig, von Kontinuität und Identifikation nicht nur zu reden, sondern sie auch zu leben“, begründete Carsten Wehlmann das Bekenntnis zu einer langen Zusammenarbeit.
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Dass Lieberknecht am Sonnabend nicht auf der Bank sitzen kann, wird kaum Einfluss auf die Partie haben. „Rund um das Spiel darf ich mich frei bewegen: So darf ich die Ansprache vorm Spiel halten, darf auch in der Halbzeit in die Kabine“, erklärte er. „Während des Spiels sitze ich auf der Tribüne.“ Co-Trainer Ovid Hajou wird seinen Chef ähnlich emotional vertreten, glaubt Schultz: „Der Torsten wird seine Kollegen schon auf Linie getrimmt haben.“
Der FC St. Pauli hat von der DFL die Zweitligalizenz für die Saison 2022/23 erhalten. Für den Fall eines Bundesliga-Aufstiegs ist sie mit Auflagen wie beispielsweise infrastrukturellen Maßnahmen verbunden. Die zuletzt verletzten James Lawrence, Luca Zander und Daniel-Kofi Kyereh nahmen am Donnerstag am Training teil.