Heidenheim/Hamburg. Der eindrucksvolle 4:2-Sieg des Hamburger Kiezclubs in Heidenheim hatte seinen Ursprung in einem Kabinenzoff zur Halbzeit.
Das Wetter am Sonntagvormittag passte so gar nicht zu der Stimmungslage beim FC St. Pauli. Eine tiefe, dichte Wolkenschicht hatte sich über die Stadt gelegt, zeitweise nieselte es dazu. All das störte die Spieler des Zweitliga-Tabellenführers herzlich wenig, als sie zum Auslaufen und Ausradeln aufbrachen oder zum Spielersatztraining auf ihren Rasenplatz an der Kollaustraße gingen.
Der kleinen, von Trainer Timo Schultz angeführten Laufgruppe hatte sich auch sein Sohn Paul angeschlossen, der später noch den Spielformen und Abschlussübungen der Ersatzspieler zuschaute und fleißig die Bälle einsammelte, die dabei über den Zaun geflogen waren.
FC St. Pauli trainiert sofort weiter
Wer erwartet hatte, dass Timo Schultz seiner Mannschaft nach dem in der zweiten Halbzeit herausgespielten 4:2 (1:0)-Sieg außerplanmäßig einen freien Sonntag gewähren würde, sah sich getäuscht. „Wenn man frei bekommt, ist es keine Belohnung. Wir freuen uns auf morgen früh um zehn Uhr, dass wir uns wiedersehen und zusammen trainieren können, weil wir das gern machen“, hatte Schultz schon kurz vor der Abfahrt von der Heidenheimer Voith-Arena gen Flughafen gesagt.
Immerhin beobachtete er mit einiger Freude, dass beim Beladen des Mannschaftsbusses auch ein paar Kästen Bier dabei waren. Siege gemeinsam und in Maßen zu begießen, steht bei ihm nicht auf dem Index, sondern gilt eher als teambildende Maßnahme.
FC St. Pauli konnte sich in Heidenheim beweisen
Wie gut die aktuelle Mannschaft als Gemeinschaft funktioniert, konnte in Heidenheim noch einmal sehr eindrucksvoll beobachtet werden. Ziemlich offen sprachen Spieler, Trainer und Sportchef nach dem Sieg darüber, was nach den ersten 45 Minuten in der Kabine vor sich gegangen ist.
„Wir haben uns in der Halbzeit mal die Meinung gesagt und die erste Hälfte knallhart analysiert. Das war ganz gut so. Es hat ja was gebracht. Das muss manchmal sein und zeigt, dass wir als Mannschaft funktionieren“, verriet Kapitän und Abwehrchef Philipp Ziereis (28), der selbst beim frühen Gegentor durch Heidenheims Mittelfeldspieler Tobias Mohr nicht glücklich ausgesehen hatte.
Schultz besänftigte die Gemüter
Trainer Schultz beschrieb das Geschehen später aus seiner Sicht so: „Ich bin ja nach der ersten Halbzeit noch mit meinen Co-Trainern auf dem Platz. Wir besprechen uns, was wir ansprechen wollen oder per Video zeigen wollen. Meist komme ich dann ein, zwei Minuten später in die Kabine. Ich habe schon auf dem Gang gehört, dass da ordentlich Leben in der Bude war.“
Auch Sportchef Andreas Bornemann war Augen- und Ohrenzeuge und berichtete: „Die Mannschaft war selbst mit sich nicht im Reinen. Das finde ich immer ganz gut. Das ist das, was wir immer wollen. Da darf es auch untereinander mal lauter werden. Da darf der Trainer dann mal sagen: Herunterfahren, es steht nur 0:1.“ Timo Schultz bestätigte dies: „Ich habe dann gesagt, pustet erst mal durch, trinkt und esst was. Dann haben wir ein, zwei Sachen besprochen, die wir einfach besser machen müssen. Wenn es so aufgeht, ist es ja schön.“
Dittgen für Buchtmann eingewechselt
Die auffälligste Änderung war die Einwechslung von Maximilian Dittgen für den „Zehner“ Christopher Buchtmann, der sich gegen die physisch starke Heidenheimer Defensive nicht recht in Szene setzen konnte. Die Maßnahme fruchtete, nicht nur wegen der beiden Tore Dittgens.
Wie Bornemann bewertete auch Schultz den Kabinenzoff zur Pause positiv. „Entscheidend ist, dass sich die Jungs inhaltlich die Meinung sagen. Wenn sie der Meinung sind, dass sie die falschen Lösungen suchen und die Räume falsch besetzen oder falsch belaufen. Dann checkst du als Trainer auch, dass es die Jungs kapiert haben, was du von ihnen möchtest und dass sie an den Plan glauben oder auch Optimierungsvorschläge haben.“
Erstmals unter Schultz siegte das Team nach Rückstand
Dazu machte Schultz noch einen weiteren Aspekt aus, der für den Zusammenhalt seiner Truppe spricht und kein Zufallsprodukt ist. „Mir zeigt es, dass die Mannschaft lebt und sich die Spieler so weit vertrauen, dass man die Dinge auch mal im raueren Ton ansprechen kann. Wenn sie sich nicht untereinander vertrauen, wird eher geschwiegen“, stellte er wohl treffend fest.
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Ganz nebenbei überwand die St.-Pauli-Truppe mit den vier Toren von Heidenheim auch das Manko, bisher unter Schultz als Cheftrainer noch nie einen Rückstand in einen Sieg verwandelt zu haben. „Das wollten wir jetzt auch noch mal abhaken“, sagte Philipp Ziereis. Auch Schultz berichtete, dass dies zuletzt ein internes Thema gewesen sei.
FC St. Pauli: Verhaltende Aussage zu Aufstiegsplänen
„Ich hatte den Spielern in der Vorbereitung auf Heidenheim allerdings auch gesagt, dass sie, was den Rückstand angeht, nicht sofort in die Umsetzung gehen müssen“, berichtete Schultz und konnte angesichts des Sieges darüber schmunzeln, dass seine Spieler dennoch die frühe Heidenheimer Führung durch eine ganze Kette von Fehlern in der Defensive ermöglicht hatten.
Zuletzt hat St. Pauli vor zehn Jahren aus den ersten zehn Zweitliga-Spieltagen 22 Punkte gesammelt. Am Ende wurde das Team, dem noch Max Kruse angehörte, Vierter. Diese Zahl, aber auch die 61 Punkte, die aus den 32 Spielen des Kalenderjahres 2021 erspielt wurden, befeuern jetzt die Aufstiegshoffnungen. Doch Sportchef Bornemann sieht keinen Anlass, von der bisher verbal defensiven Linie in diesem Punkt abzurücken. „Was soll der Tabellenplatz daran ändern, dass man sich in der Woche weiter gut vorbereiten muss auf das nächste Spiel? Gar nichts“, befand er. Er sagte aber auch: „Die Mannschaft hat ja auch ein Gespür dafür, was geht.“ Und das ist in dieser Saison ganz offensichtlich sehr viel.
1. FC Heidenheim: Kevin Müller – Hüsing, Mainka, Theuerkauf – Schöppner (72. Pick) – Busch, Mohr – Sessa (72. Malone), Burnic (64. Leipertz) – Kühlwetter (46. Thomalla), Schimmer (64. Kleindienst).
FC St. Pauli: Vasilj – Zander, Ziereis, Medic (90. Lawrence), Paqarada – Aremu – Irvine (70. Benatelli), Hartel (90. Becker) – Buchtmann (46. Dittgen) – Kyereh, Burgstaller (80. Makienok). Schiedsrichter: Benjamin Brand (Unterspiesheim).
Tore: 1:0 Mohr (4.), 1:1 Burgstaller (55.), 1:2 Dittgen (56.), 1:3 Burgstaller (60.), 1:4 Dittgen (81.), 2:4 Kleindienst (85.).
Zuschauende: 8013.
Gelbe Karten: Kühlwetter (2), Kleindienst (3), Theuerkauf (2) – Irvine (2), Medic (2).
Statistik: Torschüsse: 10:11, Ecken: 3:7, Ballbesitz: 46:54 Prozent, Zweikämpfe: 72:90, Laufleistung: 120,83:121,14 km.