Hamburg. Der FC St. Pauli entschied sich mit dem radikalen personellen Umbruch gezielt für eine veränderte Führungsstruktur.
Von einer ausgelassenen Stimmung oder gar übertriebener Euphorie war am Montag auf der Trainingsanlage des FC St. Pauli trotz der vier Punkte aus den ersten beiden Saisonspielen und der dabei erzielten sechs Treffer nichts zu erkennen. Während die Startelfspieler des 4:2 gegen Heidenheim ihre Regenerationseinheit auf Fahrrädern abspulten, absolvierten die eingewechselten und nicht eingesetzten Akteure ein intensives Spielersatztraining. „Die Jungs heben nicht ab, da habe ich keine Sorge. Es gibt auch noch vieles zu verbessern“, hatte Timo Schultz schon am Sonntag nach seinem ersten Zweitligasieg als Cheftrainer gesagt.
Die Videoanalyse, die der Coach vor dem körperlichen Training angesetzt hatte, konnte offenbar dazu beitragen, dass den Spielern bewusst wurde, gegen Heidenheim auch mit einer Portion Glück zu den drei Punkten gekommen zu sein, selbst wenn die Effektivität in der Offensive schon meisterlich war.
Neue Ausrichtung trägt erste Früchte
„Wenn man einen neuen Weg einschlägt, einen radikalen Umbruch vollzieht, dann geht so eine Entwicklung einfacher und schneller vonstatten, wenn man gleichzeitig Punkte holt“, hat Schultz treffend erkannt. Gerade nach dem ernüchternden Pokalaus in Elversberg hätten zwei Niederlagen in den ersten Punktspielen in der Tat einige Zweifel wachsen lassen, ob die Neuausrichtung sich wirklich auf diese Weise erfolgreich umsetzen lässt.
Nach dem 2:2 in Bochum und dem 4:2 gegen Heidenheim, also vier Punkten gegen hoch eingeschätzte Kontrahenten, aber ist festzuhalten, dass die neue Ausrichtung erste Früchte trägt und für den weiteren Saisonverlauf vielversprechend ist. Eine wichtige Rolle dabei spielt offenbar, dass sich durch die erheblichen personellen Veränderungen die internen Hierarchie-Verhältnisse ebenfalls stark verändert haben. Trainer Schultz verriet jetzt, dass bei mancher Personalentscheidung genau dies auch mit voller Absicht geschehen ist.
Viele Neuzugänge
„Wir haben uns bewusst im Sommer dazu entschieden, den einen oder anderen Spieler mehr abzugeben, der in der Hierarchie ganz oben stand“, sagte er nach dem Sieg gegen Heidenheim. Gemeint haben dürfte er neben Urgestein und Vize-Kapitän Jan-Philipp Kalla (34) vor allem auch Johannes Flum (32) und Waldemar Sobota (33), die selbst gern geblieben wären, bei aller Loyalität und charakterlicher Anständigkeit aber in den vergangenen Jahren als Führungsspieler auch Gesichter einer unbefriedigenden sportlichen Entwicklung der Mannschaft waren.
Starke Laufwerte
- Rennen: Die 124,64 Kilometer, die die St.-Pauli-Profis beim 4:2 gegen Heidenheim zurücklegten, sind der bisherige Bestwert der Zweiten Liga in dieser Saison. Im Kalenderjahr 2020 legten nur Bundesliga-Aufsteiger Arminia Bielefeld und Hannover 96 noch mehr Kilometer innerhalb einer Partie zurück. Es war zudem die beste Laufleistung St. Paulis seit dem 1:0 beim 1. FC Nürnberg am 11. September 2017 (125,41 km).
- Rasen: Der gegen Heidenheim mit einer Wadenprellung ausgefallene Daniel Buballa absolvierte am Montag wieder ein leichtes Training mit Ball und einem langen Lauf auf dem Platz.
„Wenn man viele Neuzugänge hat, wird die Hierarchie durcheinandergewürfelt. Das ruckelt sich gerade alles so ein bisschen zurecht“, beschreibt Schultz den derzeitigen Prozess. Dabei hat er mit Christopher Avevor denselben Spieler zum Kapitän ernannt wie ein Jahr zuvor sein Vorgänger Jos Luhukay. Das ist es dann aber schon mit der Kontinuität, denn Schultz beförderte den von Luhukay bewusst klein gehaltenen Marvin Knoll zu Avevors Stellvertreter und versucht so, den Leistungsträger der Saison 2018/19 wieder zu alter Stärke zu bringen. „Es freut mich, wenn ich sehe, wie ein Marvin Knoll heute vorweggeht, in jeden Zweikampf geht und die Jungs pusht und immer wieder aktiv ist“, schwärmte Schultz nach dem Sieg über Heidenheim.
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Sebastian Ohlsson als Vorbild an Stabilität und Einsatzwillen
In der neuen Führungsstruktur St. Paulis aber bedarf es längst nicht zwingend eines Amtes, um ein Spieler zu sein, an dem sich andere aufrichten können. Das beste Beispiel dafür ist gerade Sebastian Ohlsson, der als rechter Außenverteidiger schon in Bochum und jetzt gegen Heidenheim ein Vorbild an Stabilität und Einsatzwillen war. Schultz sieht ihn sogar als „einen der besten Rechtsverteidiger der Liga“. Auf seiner Seite bildete er mit dem vor ihm spielenden Jungprofi Jannes Wieckhoff (20), dem Torschützen zum 3:0, ein starkes Duo. „Ich mag es, mit jungen Leuten zusammenzuspielen, und versuche, ihnen zu helfen. Ich versuche, es ihnen so leicht wie möglich zu machen, und hoffe, dass ich mit Jannes mehr als zweieinhalb Spiele gemeinsam bestreiten kann“, sagte Ohlsson am Montag.
Und wie sieht der Schwede, der vor einem Jahr vom IFK Göteborg zu St. Pauli kam, selbst seine Rolle als potenzieller Leadertyp? „Ich denke, wir haben eine ganze Reihe von Führungsspielern in unserem Team. Vielleicht bin ich nicht derjenige, der in der Kabine am meisten redet, aber ich versuche, im Spiel ein Leader zu sein“, sagt er. „Ich hoffe, ich bin einer, zu dem sie aufschauen können und versuchen, das Gleiche zu machen. Ich habe jetzt eine Rolle, die gut zu mir passt“, sagt Ohlsson weiter, der bei seinem vorherigen Team bereits Kapitän gewesen war.
FC St. Pauli in der Einzelkritik:
„Wenn man neue Spieler dazubekommt, kommen auch ein neuer Spirit und neue Energie ins Team“, bewertet Ohlsson den personellen Umbruch positiv. Dass die bisherigen Ligatore von Spielern erzielt wurden, die in der vergangenen Saison noch nicht im Kader waren, unterstreicht diese These. Schlusswort Schultz: „Es macht als Trainer Spaß zu sehen, dass da eine richtig geile Energie in der Truppe ist.“