Hamburg. Nur zwei Coaches hatten einen noch niedrigeren Punkteschnitt. In einem anderen Kriterium hält der Holländer dafür einen Europa-Rekord.
Für Mert Kuyucu ging der Profialltag am Montag weiter. 22 Stunden nach seinem Debüt für den FC St. Pauli in der Zweiten Liga lief der Linksverteidiger mit seinen Kollegen um die Trainingsplätze. Still lauschte der 19-Jährige den Worten seiner Mitspieler, die, intensiv über die 0:1-Niederlage bei Jahn Regensburg diskutierend, ihre Runde an der Kollaustraße drehten.
Dass der Nachwuchsspieler überhaupt dabei war, zeigt, dass der Kiezclub noch immer auf der Suche nach jenem Personal ist, das in der Lage ist, die sportliche Krise zu bewältigen. Kuyucu ist bereits der 32. eingesetzte Profi in dieser Saison. Somit ist St. Pauli – die europäischen Topligen eingerechnet – einsamer Spitzenreiter. Weder in der Bundesliga noch in der spanischen Primera Division, der italienischen Serie A oder der französischen Ligue 1 kommen Clubs auf diese Zahl.
Zum Zweitliga-Vergleich: Der HSV kommt in der Saison 2019/20 auf 24 Profis mit Einsatzzeit, der Karlsruher SC und Greuther Fürth kamen gar mit lediglich 20 Spielern über die Runden. „Haben wir 15 Punkte, weil wir 32 Spieler eingesetzt haben? Wie setzt man das in einen Zusammenhang? Wenn du 32 Spieler einsetzt und 30 Punkte holst, spricht das dann für guten Konkurrenzkampf im Team? Ich muss ehrlich sagen, dass ich keinen Zusammenhang erkenne“, sagte Torhüter Robin Himmelmann und sagte einen Satz, der offenbart, was bei St. Pauli derzeit alles schiefläuft: „Es ist nicht nur eine Geschichte, es kommen viele Kleinigkeiten derzeit zusammen.“
"Uns fehlt der letzte Punch"
Und genau das macht die Gemengelage beim Tabellen-15. so prekär. Seit Wochen sprechen Verantwortliche, Trainer und Spieler über dieselben Themen. Zu wenig Effizienz im Angriff, zu einfache Gegentore und zu häufig fehlende Bereitschaft, einen Gegner niederzuarbeiten und Siege dreckig zu erzwingen. Die Hamburger sind das einzige Team im Bundesliga-Unterhaus, das noch keinen Treffer nach der 75. Minute erzielen konnte. St. Pauli „brilliert“ derzeit mit der Fähigkeit, immer einen Weg zu finden, eine Partie nicht zu gewinnen.
Und dabei müssen die Gegner nicht einmal Außergewöhnliches leisten, um St. Pauli zu besiegen. Regensburg reichte eine maximal durchschnittliche Leistung, um am Ende jubeln zu dürfen. Das ist kein Einzelfall. „Ja, da ist etwas dran. Uns fehlt der letzte Punch“, gestand Himmelmann offen ein.
„Es ist nicht leicht, sich immer nach jedem Spiel hinzustellen und zu sagen, dass wir ja nächste Woche endlich mal dieses oder jenes besser machen müssen“, sagte der Torhüter mit einer gewissen Resignation in der Stimme. „Ich kann mich manchmal schon selbst nicht mehr hören.“
Reichlich Verbesserungspotenzial
Und Verbesserungspotenzial hat St. Pauli reichlich. Emotionslose und blutleere Auftritte wie gegen Hannover 96 vor einer Woche kann sich die Mannschaft nicht mehr erlauben. In Regensburg forderten die mitgereisten Fans, dass die Mannschaft doch bitte endlich aufwachen möge, damit der freie Fall gestoppt wird.
„Wir haben aber nicht die Spieler, die mit totaler Robustheit über den Platz marschieren“, sagte Himmelmann: „Wir haben Jungs, die über das Spielerische kommen, aber natürlich muss es auch mal knallen, damit man dem Gegner so signalisiert, dass es die Punkte nicht einfach gegen uns gibt. Wir müssen dafür einen Mittelweg hinbekommen.“
Spätestens nach dem Spiel in Regensburg sollte jeder bei St. Pauli die Zeichen der Zeit erkannt haben. Nach neun Pflichtspielen – acht davon in der Liga – ohne Sieg heißt es zwei Spiele vor der Winterpause, Schadensbegrenzung zu betreiben. „Wenn wir zwei oder drei Plätze klettern wollen, reicht ein Wochenende nicht mehr aus. Das bringt uns in eine unkomfortable Situation“, sagte Himmelmann, der weiß, dass bis auf Weiteres erst einmal Abstiegskampf den Alltag des Kiezclubs begleitet: „Wenn du nach 16 Spielen 15 Punkte hast, musst du dir bewusst sein, dass es noch 25 Punkte sind, um 40 Zähler zu erreichen. Wir müssen unseren Punkteschnitt erhöhen“, forderte Himmelmann vor dem Heimspiel gegen Wehen Wiesbaden.
Vier Tage Zeit zur Krisenbewältigung
Am Ablauf der Woche ändert Jos Luhukay, der aktuell mit 0,96 Punkten pro Spiel nach Klaus-Peter Nemet, der 1997 alle sechs Spiele als Cheftrainer verloren hatte, Thomas Meggle (0,69) und Joachim Philipkowski (0,71) der viertschlechteste Trainer der Clubgeschichte ist, nichts. An diesem Dienstag ist trainingsfrei, ehe am Mittwoch die Vorbereitung auf das eminent wichtige Spiel gegen den Tabellenvorletzten mit einer öffentlichen und zwei nicht öffentlichen Trainingseinheiten jeweils am Donnerstag und Freitag beginnt.
Teambuildingmaßnahmen, die im Endspurt vor der Winterpause noch einmal die Sinne schärfen und für einen engeren Zusammenhalt innerhalb des Kaders sorgen könnten, wird es nicht geben. „Wenn wir morgen Kartfahren gehen und übermorgen um die Häuser ziehen, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es dazu führen wird, dass wir Sonnabend die Partie gewinnen“, sagte Himmelmann, der betonte, dass das Betriebsklima innerhalb der Mannschaft intakt sei und sich jeder auf dem Trainingsplatz und in der Kabine mit der Problemlösung befassen würde.
Vier Tage hat St. Pauli nun Zeit, schlüssige Antworten zur Krisenbewältigung zu finden. „Wir haben noch zwei Heimspiele und sollten beide positiv gestalten“, gab Himmelmann das Ziel aus. Egal, wer von den 32 eingesetzten Spielern letztlich auflaufen wird.