Hamburg. Der kaufmännische Geschäftsleiter beim FC St. Pauli spricht über die Zukunft des Clubs und fordert ein Umdenken im Fußball.

Am 30. September ist offiziell Schluss. Andreas Rettig verlässt den FC St. Pauli aus persönlichen Gründen und zieht nach Köln. Beim Besuch der Abendblatt-Redaktion bewies der 56-Jährige aber, dass er noch längst nicht fußballmüde ist

Hamburger Abendblatt: Herr Rettig, haben Sie als Rheinländer in den vier Jahren Hamburg schätzen gelernt?

Andreas Rettig: Meine Frau und ich gehen mit vier weinenden Augen weg. Hamburg ist die schönste Stadt, in der wir gearbeitet haben. Aber Köln ist ein Gefühl.

Was nehmen Sie mit?

Rettig: Tatsächlich dieses positive Klischee über die Hamburger: ein Mann oder eine Frau, ein Wort.

Woran machen Sie das fest?

Rettig: Ich hatte einen kleinen Autounfall in der Nähe der Kennedybrücke. Keiner wollte schuld gewesen sein. Wir sind beide um unsere Autos gelaufen, haben uns dann darauf geeinigt, dass jeder seinen eigenen, kleinen Schaden übernimmt. Darauf haben wir uns die Hand gegeben – und ich habe nie wieder was von ihm gehört.

Was hat Ihnen nicht so gut gefallen?

Rettig: Viele Spiele am Millerntor ... (lacht)

Das Schlimmste dürfte das 0:4 gegen den HSV im Frühjahr gewesen sein?

Rettig: Insgesamt der ganze Tag, von den Pyro-Exzessen über die Leistung der Mannschaft bis zum Ergebnis. Alles war so, dass man nicht gerne zurückdenkt. Nein, das war wirklich kein schöner Tag.

Gab es für Sie einen besonders schönen Sieg?

Rettig: Der 2:1-Erfolg in Kaiserslautern im Mai 2017. Nach einer desaströsen Hinrunde mit nur elf Punkten hatten wir mit 34 Punkten in 16 Spielen die Klasse praktisch gehalten.

In dieser Rückserie hat es wunderbar geklappt mit Ewald Lienen und Olaf Janßen. Warum hat man dieses Konstrukt damals nicht beibehalten?

Rettig: Ewald hat unglaubliche Qualitäten, in höchstem Maße Empathie und soziale Kompetenz. Im menschlichen Eins zu Eins ist er unschlagbar. Ewalds Größe zeigte sich zum Beispiel in der Bereitschaft, dem Co-Trainer die tägliche Arbeit mit den Spielern zu überlassen. Aber diese Konstellation konnte nicht von Dauer sein. Wir wollten Ewald nicht verlieren, andererseits hatte Olaf den Anspruch, das Klavier auch mal alleine zu tragen. Leider hatte die neue Konstellation nicht den gewünschten Erfolg.

Als Sie kamen, hat der FC St. Pauli in der Zweiten Liga gespielt. Jetzt gehen Sie – und der Club ist immer noch im Unterhaus. Das hatten Sie sich sicher anders vorgestellt.

Rettig: Wenn ich die drei Herren an meine Stellenbeschreibung erinnern darf: Ich bin als kaufmännischer Geschäftsleiter verpflichtet worden, so gehe ich jetzt auch von Bord. Hätte ich Sportdirektor werden wollen, wäre ich woanders gelandet. Damit distanziere ich mich aber keineswegs von sportlichen Entscheidungen, die ich getroffen oder mitgetragen habe.

Wie fällt Ihre Bilanz nach vier Jahren aus?

Rettig: Wir haben viele gute Entscheidungen getroffen, im Sport und außerhalb. Der Verein steht heute viel besser da als vor vier Jahren, das ist aber ein Gemeinschaftswerk. Wir haben uns in allen relevanten Bereichen verbessert: In den wirtschaftlichen Kennzahlen, sprich höhere Eigenkapitalquote, weniger Verbindlichkeiten, stark verbesserte Infrastruktur. Hier sind wir deutlich nach vorne gekommen. Wir haben strategisch Ziele erreicht, die perspektivisch für den Verein goldwert sind. Ich erinnere an die Eigenvermarktung und das Thema der Unabhängigkeit, was für mehr liquide Mittel sorgen wird. So eine Entscheidung bekommt man nur hin, wenn Aufsichtsrat, Präsidium und Geschäftsführung zielgerichtet und vertrauensvoll zusammenarbeiten.

Andreas Rettig fordert, den Fokus auf
ökologische, soziale Fragen zu lenken.
Andreas Rettig fordert, den Fokus auf ökologische, soziale Fragen zu lenken. © Mark Sandten

Der sportliche Bereich ...

Rettig: … hatte es schwerer als die Verwaltung – wir haben ja keinen, der uns bei der Zielerreichung stört. (lacht) Das dritte Feld ist die Sportpolitik. Da hat der Verein viel mehr Beachtung gefunden. Wir haben uns mit den Großen angelegt, uns inhaltlich, Stichwort 50+1, klar positioniert. Wir haben jetzt mit unserem Vereinspräsidenten Oke Göttlich jemanden, der in einer überaus wichtigen Phase im Präsidium der Deutschen Fußball Liga sitzen wird. Wir haben lange diskutiert, ob es richtig ist, dass wir aus der Oppositionsrolle herausgehen und Verantwortung übernehmen. Ich begrüße das ausdrücklich: Wir können nicht nur immer gegen etwas sein, wir müssen auch mitgestalten. Da müssen wir auch mal den Rücken gerade machen und sagen: Ja, wir sitzen mit am Regierungstisch, weil hier zukunftsweisende Beschlüsse gefasst werden.

Die da wären?

Rettig: Erstens die Struktur des Ligaverbands. Zweitens die Frage der Ausschreibung der Medienrechte und drittens die Verteilung. Was mich besonders gefreut hat: Oke Göttlich ist in der Zweitligaversammlung mit den meisten Stimmen gewählt worden. Das zeigt, wie wir stellvertretend für den ganzen Verein wahrgenommen werden.

Rettig: Sie sagen, der sportliche Bereich konnte das Tempo nicht mitgehen. Das drückte sich ja auch in den vielen Wechseln auf Führungspositionen aus, nach dem Motto: jedes Jahr ein neuer Trainer. Warum konnte der Bereich nicht Schritt halten?

Rettig: Man muss sehen, woher wir kommen. In den vier Jahren hatten wir sportlich auch gute Phasen. Es hat aber immer etwas gefehlt: Entweder hatten wir ein Pro­blem in der Kaderzusammensetzung, oder wir haben vielleicht nicht auf den zu der Zeit passenden Trainer gesetzt. Da war immer etwas, was nicht ganz gestimmt hat. Jetzt kann ich der St.-Pauli-Gemeinde zurufen, dass wir gut und richtig aufgestellt sind. Ich bin von den jetzigen Entscheidungsträgern im Sport restlos überzeugt, sowohl von Andreas Bornemann und auch von Jos Luhukay. Beide wollten wir übrigens schon früher gerne verpflichten. Wenn man sie in Ruhe arbeiten lässt, wird sich der Erfolg einstellen. Ich kann Luhukay gut beurteilen, weil ich in Augsburg und Köln sechs Jahre mit ihm gearbeitet habe – er weiß, wie es geht. Aber er braucht Zeit, bis die Themen, die er den Jungs beibringt, auch umgesetzt werden können.

Sie sagten bei Ihrem Amtsantritt, sie hätten das finanziell schlechteste Angebot angenommen ...

Rettig: … was leider auch stimmt ...

Diente der Club als Plattform, um sich mit sportpolitischen Themen zu profilieren?

Rettig: Nein. In dem Moment, als ich bei St. Pauli angefangen habe, waren die großen Karrieresprünge vorbei. Ich habe mir damals gesagt: Im letzten Drittel meines beruflichen Wirkens entscheide ich ausschließlich nach drei Punkten: der Jobzufriedenheit, mit welchen Leuten ich zu tun habe und wie es mit der Lebensqualität am Standort aussieht. Natürlich gefiel mir das Image des Vereins, besonders wenn man von der DFL kam. Das hat ja auch auf beiden Seiten viele Fragezeichen hervorgerufen. Ich habe St. Pauli immer als etwas rebellischen Verein wahrgenommen, damit konnte ich mich gut identifizieren.

Viele Fans wähnen den Fußball auf einer abschüssigen Bahn. Man denke an goldene Steaks, 222-Millionen-Euro-Ablösen ...

Rettig: Es ist höchste Zeit gegenzusteuern. So sind wir auf dem Holzweg. Wir dürfen nicht alles der Ökonomie, der Umsatzmaximierung unterwerfen – es geht genauso um ökologische und soziale Fragen. Ja, es geht um den Profi-Standort Fußball. Wir haben keine Chance in Deutschland, die englische Premier League in puncto Einnahmen zu erreichen. Ich halte es auch nicht für erstrebenswert. Also müssen wir überlegen, wie wir die Wettbewerbsfähigkeit am Standort in Deutschland erhöhen können. Das geht eben nicht, indem man die Schleusen für Investoren und deren Gelder öffnet, man die Vereine verkauft in der Erwartung, dass danach die Henkelpötte nur so angeflogen kommen. Das funktioniert nicht, weil man einen Wettstreit mit Oligarchien und Staatsfonds mit unendlich tiefen Taschen nicht gewinnen kann.

Was also ist zu tun?

Rettig: Ich muss kurz zurückgehen: 2000 bis 2006 hatte ich den Vorsitz der Kommission der Leistungszentren. Da lag der deutsche Fußball am Boden nach dem EM-Desaster 2000 in der Vorrunde. Wir mussten die Vereine quasi zu ihrem Glück zwingen, als wir ihnen gesagt hatten: Ihr müsst in die Leistungszentren investieren. Das war damals ein irrer Kampf. Aber es ging um qualifizierte Trainer und Übungsleiter, um Infrastruktur, medizinische Versorgung, Schulkooperationen, vernünftige Plätze.

Und heute?

Rettig: Stehen wir wieder an einer Weggabelung. Welchen Weg wollen wir gehen: Eher den Weg der Konzernausrichtung oder den der Familienbetriebe? Da sage ich: Die historischen, kulturellen und sozialen Wurzeln gehören beim Familienbetrieb genauso zur DNA wie im Profifußball. Wir dürfen nicht ausschließlich dem Shareholder-Value-Gedanken der Konzerne unterliegen, müssen mehr in Generationen als in Spielzeiten zu denken und schauen: Was können wir einbringen, was bringt uns einen Wettbewerbsvorteil ein? Uns muss gelingen, Themen wie Nachhaltigkeit oder soziales Engagement, all diese Themen, die nicht nur Zeitgeistthemen, vielmehr existenziell sind, glaubwürdig in Deutschland zu implementieren. Und wir müssen die Investoren dafür begeistern, sodass sie sagen: Von dem positiven Imagetransfer möchte ich auch profitieren. Zweitens muss es darum gehen, Berater von Spielern in diese Richtung zu überzeugen. Nach dem Motto: In Deutschland spielst du in der nachhaltigsten, sozialsten und emotionalsten Liga, das kann für deinen Werdegang nur von Vorteil sein gibt es ein. Früher hieß es: made in Germany. Ich sage: play in Germany.

Schaut man heute in die Liga, dürfte der Weg noch weit sein ...

Rettig: Das stimmt. Mit den Wirtschaftsberichten der DFL und Jubelmeldungen vom 14. Umsatzrekord in Folge kann ich nichts anfangen. Da wird auf 15 Zeilen Nachhaltigkeit abgetan. Genau das ist der falsche Weg. Wenn wir die Generation Z nicht verlieren wollen, müssen wir gegensteuern. 15-Jährige gehen auf die Straße, weil sie sich für ökologische, soziale Themen engagieren. Es gilt, die emotionale Bindung genau dieser Menschen zu bekommen. Unternehmen sind seit einigen Jahren verpflichtet, Berichte über nicht kommerzielle Aktivitäten zu erstellen. Das wird auch auf den Profifußball zukommen: Da sollten wir uns proaktiv diesen Themen widmen, wie Solaranlagen auf dem Dach, E-Ladestationen vor dem Stadion, Regenwassernutzung, Lebensmittelverschwendung, Fair Trade im Merchandising usw. Darum geht es. Der Profifußball muss endlich ein Statement abgeben, um jungen Leuten Orientierung und Hilfestellung zu geben. Wer kann das denn heute noch? Die Politik wird müde belächelt, die Kirche hat ähnliche Probleme. Wenn ich den Rechtsruck sehe, graust es mir. Warum können wir nicht im DFB-Pokal auf einem Ärmel ein gesellschaftliches Thema setzen?

Geht die Idee mit der Genossenschaft, die nicht vorankommt, auch in diese Richtung?

Rettig: Durchaus. Partizipation, also echte Teilhabe und Mitbestimmung, rücken immer mehr in den Vordergrund. Die Zeit von Befehl und Gehorsam ist vorbei. Das gilt auch für die Verbände. Organisationen, auf deren Führung die Mitglieder nur noch bedingt Einfluss haben, beginnen ein Eigenleben zu führen. Damit sind wir auf dem falschem Weg.

Das Wertgutachten müsste da sein.

Rettig: Das ist es auch. Mit einem besseren Ergebnis, als wir dachten. Aber erst müssen wir alle steuerrechtlichen Themen geklärt haben.

Da gibt es ja gerade einige Probleme, wie die Steuerrazzia von vergangener Woche zeigt...

Rettig: Nein. Der FC St. Pauli ist von der Rechtmäßigkeit seines Umgangs mit Freikarten überzeugt und hat diesen im Rahmen seiner Steuererklärungen stets offen kommuniziert. Aber dass zeitgleich mit den Behörden ein Fernsehteam vor der Tür stand, hat nicht nur bei uns Fragen aufgeworfen. Die Behörden haben deshalb Anzeige erstattet. Wir sind in kon­s­truktiven Gesprächen und hoffen, zeitnah dieses Thema abschließen zu können.

Ging es da nur um die Amtsträger, die zu den Spielen eingeladen waren?

Rettig: Da es ein laufendes Verfahren ist, möchte ich mich nicht öffentlich dazu weiter einlassen.

Kommen wir noch einmal zur Genossenschaft. Wie geht es konkret weiter?

Rettig: Wir sind in der Abstimmung mit dem Prüfungsverband und weiteren externen Experten und nutzen auch die Schwarmintelligenz unserer Mitglieder. Wir betreten ja für den Fußball Neuland, da muss alles gut überlegt sein. Doch bevor wir irgendwas veröffentlichen, sprechen wir natürlich mit unseren Mitgliedern.

Klappt das bis zur Mitgliederversammlung?

Rettig: Wir haben keinen Zeitdruck. Ob das im November oder im kommenden März sein wird, ist unerheblich. Wir brauchen ein bisschen Zeit, weil es bislang kein Modell im Sport gibt. Wir haben uns mit vielen Genossenschaften getroffen, etwa der Altoba oder Edeka, und wertvolle Hinweise bekommen. Wir wollen uns keinen schnellen Applaus für ein tolles Modell abholen, das uns dann ein halbes Jahr später auf die Füße fällt.

2020 entscheidet sich, wie viele Gläubiger auf ihre Zinsen der Fananleihe verzichten. Wie sieht es da aus?

Rettig: Es wird einen außerordentlichen Ertrag geben. Konkreter lässt sich das vor dem Stichtag nicht beziffern. Wir wollten im Übrigen nicht die auslaufende Anleihe durch eine neue ablösen.

Wie das andere machen.

Rettig: Ja. Aber da wir kontinuierlich Substanz aufgebaut haben, konnten wir das anders lösen. Auch für das abgelaufene Geschäftsjahr werden wir wieder mit positiven Zahlen aufwarten, ohne dass ich da zu viel vorweg nehme. Wir handeln wie ein Familienunternehmen und betrachten die Dinge auf einer längeren Zeitachse, unabhängig von der persönlichen Situation und den eigenen Vertragslaufzeiten. Ich sehe für den Verein eine rosige Zukunft. Bei uns ist nichts auf Sand gebaut. Das Stadion beispielsweise ist in circa acht Jahren abbezahlt.

Wird das Derby ruhiger und vernünftiger als beim letzten Mal?

Rettig: Ja, davon bin ich überzeugt. Das erste Derby nach langer Zeit hatte die Fans ein bisschen verrückt gemacht. Daraus haben wir alle gelernt. Ich glaube nicht, dass wir wieder so ein Desaster erleben, auch nicht auf dem Platz.

Ist das Derby Ihr letztes Spiel?

Rettig: Mein letztes Heimspiel. Dann kommt das letzte Auswärtsspiel in Osnabrück – und am 23. September gebe ich meinen kölschen Ausstand. Aber wir haben den Übergang über Monate gut vorbereitet. Ich gehöre im Übrigen nicht zu den Leuten, die zwei Menschen im Unternehmen schlecht finden – meinen Vorgänger und meinen Nachfolger.

Den Nachfolger wird auf mehrere Schultern verteilt – wie sehen Sie das?

Rettig: Positiv. Die Aufgaben sind heute so umfangreich, dass eine Aufteilung auf mehrere Schultern sinnvoll erscheint. Auch der FC Bayern hat heute fünf Vorstände für die Aufgaben, die früher Uli Hoeneß allein erledigt hat.

Beruflich durch sind Sie mit 56 Jahren ja noch nicht ...

Rettig: Ich werde hoffentlich irgendwann mal wieder etwas im Berufsfußball machen, aber nicht jetzt. Nun stehen erst einmal die privaten persönlichen Gründe im Vordergrund.

Wie werden Sie das Mehr an Freizeit nutzen? Golf spielen? Reisen?

Rettig: Ja, wir werden reisen, Deutschland hat viele schöne Ecken, auf die wir uns freuen, und zudem wollen wir 14 Tage Fastenwandern.