Hamburg. In den 34 Spielen seiner Amtszeit sammelte nur eine Mannschaft in der zweiten Liga mehr Punkte als der Cheftrainer der Kiezkicker.

So richtig vorbereitet hatte sich Ewald Lienen auf sein erstes Saisonjubiläum in Diensten des FC St. Pauli ganz offenbar nicht. Das hätte auch gar nicht seinem Naturell entsprochen, für den Cheftrainer des Kiezclubs sind die anstehenden Aufgaben und Herausforderungen immer bedeutend wichtiger als das, was vergangen ist.

Daher wirkte Lienen sogar ein wenig überrascht, als ihn das Abendblatt nach dem 2:1-Sieg beim 1. FC Kaiserslautern am Sonntag darauf aufmerksam machte, dass er mit dem Ende der Zweitliga-Hinrunde nun 34 Spiele, also mithin ein komplette Saison, als Cheftrainer des FC St. Pauli tätig ist.

Nach ein paar Momenten des Innehaltens gingen Lienens Gedanken dann aber doch an jenen Dienstag im Dezember vergangenen Jahres, als er in einer vermeintlichen Nacht- und Nebelaktion mitten in einer englischen Woche als neuer Cheftrainer des Kiezclubs verpflichtet und gleich ins Rennen um Punkte geschickt wurde.

53 Punkte in der "Lienen-Saison"

„Wir waren damals in einer dramatischen Situation. Ich habe da überhaupt keinen Gedanken daran verschwendet, wo wir wohl ein Jahr später stehen würden. Es gab nur das Ziel, irgendwie den Klassenerhalt zu schaffen“, erinnerte er sich. Nach den 17 Spielen der Hinrunde standen damals gerade 13 Punkte zu Buche, St. Pauli war Schlusslicht der Liga.

Noch am Tag seiner Vorstellung, nach einem kurzen Abschlusstraining, reiste Lienen mit dem Team nach Bayern, wo am Tag danach das Spiel beim Tabellenführer und späteren Aufsteiger FC Ingolstadt 04 anstand. „Ich musste Hals über Kopf einen Kader benennen und eine Startelf formieren. Das war schon Hardcore“, erzählte Lienen jetzt. Und selbst nach diesem Spiel, das etwas unglücklich 1:2 verloren ging, gab es kaum Zeit zum Durchatmen. „Auch vor dem Heimspiel drei Tage später gegen Aalen konnten wir kaum richtig trainieren“, erinnert er sich. Dennoch gelang dort ein immens wichtiges 3:1 gegen den direkten Konkurrenten im Kampf gegen den Abstieg.

Dies waren also im zweiten Spiel Lienens die ersten drei Punkte, die er mit dem FC St. Pauli einfuhr. 21 weitere sollten bis zum Saisonende folgen. Jetzt sind in der ersten Hälfte der Spielzeit 2015/16 noch einmal stattliche 29 dazu gekommen. Zusammengefasst heißt das: In der „Lienen-Saison“, also der zweiten Hälfte der Saison 2014/15 und der ersten der Spielzeit 2015/16, sammelte der FC St. Pauli 53 Punkte. Dies sind 1,56 Punkte pro Spiel – eine sehr vorzeigbare Bilanz vor allem vor dem Hintergrund, dass Lienen ein sportlich und mental am Boden liegendes Team übernehmen und erst einmal wieder aufrichten und in die Spur bringen musste. „Die Entwicklung konnte man in dieser Form nicht erwarten. Das wäre schon etwas vermessen gewesen“, sagte Lienen.

Aufreibendstes Erlebnis bei Spiel gegen Darmstadt

Der Cheftrainer verriet am Sonntag, dass Sören Gonther im Kreis, den die Mannschaft nach dem 2:1 in Kaiserslautern auf dem Rasen des Fritz-Walter-Stadions gebildet hatte, noch einmal an die Situation vor rund einem Jahr erinnert hatte. „Das stimmt. Ich habe den Jungs gesagt, dass sie noch einmal daran denken sollen, wie wir nach der Hinrunde der vergangenen Saison nach dem 0:1 gegen Darmstadt nur 13 Punkte hatten und wie geprügelte Hunde aus dem Millerntor-Stadion geschlichen sind. Deshalb sollten wir es jetzt besonders intensiv genießen, 29 Punkte zu haben und stolz wie Bolle als Sieger den Betzenberg verlassen zu können“, bestätigte Gonther am Montag. „Aber wir werden auch noch einmal alle Kräfte bündeln, um die beiden Spiele bis zur Winterpause auch noch möglichst erfolgreich zu gestalten.“

Die Bilanz der 34 Spiele unter Ewald Lienen garniert Gonther mit viel Lob für den 62 Jahre alten Fußballlehrer. „Er hat es geschafft, uns aus einer misslichen und für die breite Öffentlichkeit ausweglosen Situation herauszuholen. Er hat aus uns eine Mannschaft geformt, die leidenschaftlich und mit Herz auftritt, in vielen Einzelgesprächen hat er jedem Spieler von uns klar gemacht, dass er hier ist, weil er etwas kann. Das hat gefruchtet“, sagte er. „Er ist ein Trainer, der mit seinem Team aufwendig und akribisch arbeitet und nichts dem Zufall überlässt.“

Das bisher aufreibendste Erlebnis hatte Lienen im letzten Spiel der vergangenen Saison, als in Darmstadt trotz der 0:1-Niederlage der Klassenverbleib feststand. „Ich war nach dem Spiel völlig fertig und konnte mich da gar nicht richtig freuen. Die Genugtuung kam erst ein bisschen später, als ich realisiert hatte, dass wir wirklich den Klassenerhalt geschafft haben“, erzählte er.

Von allen Mannschaften der Zweiten Liga holte im Übrigen nur RB Leipzig (58) seit Beginn der vergangenen Rückrunde, also in der „Lienen-Saison“ mehr Punkte als der aktuelle Tabellendritte FC St. Pauli.