Vor einem Jahr nahm sich Andreas Biermann das Leben. Sein Trainer beim FC St. Pauli, Holger Stanislawski, erinnert sich.

Die letzte SMS schickte Andreas Biermann an seinen Trainer der Senioren der Spandauer Kickers. Er habe Fieber, könne nicht zum Spiel kommen. Vater Gernot ahnte Böses, als er erfuhr, dass Biermann seine beiden Kinder bei seiner Ex-Frau nicht wie vereinbart abgeholt habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich sein Sohn bereits das Leben genommen. Er starb am 18. Juli 2014 in seiner Berliner Wohnung im Alter von nur 33 Jahren. Fünf Jahre zuvor, als Biermann noch beim FC St. Pauli spielte, wurde sein erster Suizidversuch öffentlich. Holger Stanislaws­ki, sein damaliger Trainer, wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sein Spieler an einer schweren Depression litt. Und auch Biermann selbst ging zunächst von einer Spielsucht aus.

Hamburger Abendblatt: Herr Stanislawski, wann haben Sie gemerkt, dass An­dreas Biermann große Probleme hatte?

Holger Stanislawski: Zunächst gar nicht. Er war immer ein ruhiger, introvertierter Typ, aber man hat ihm seine Krankheit nie angemerkt. Er hat mir später gesagt, dass Depressive wissen, was sie erzählen müssen, damit es keiner merkt. Sie können ihre Krankheit verstecken. Selbst die Spieler, die auch privat viel mit ihm zu tun hatten, haben es nicht gemerkt. Die kurzen Momente, in denen man sich austauschte, haben nicht gereicht, um etwas mitzubekommen.

Wann haben Sie es dann erfahren?

Stanislawski : Nach seinem ersten Suizidversuch 2009. Er hat zunächst eine ambulante Therapie bekommen, wurde aber nur auf Spielsucht therapiert. Am Anfang deutete alles darauf hin, nachdem er zuvor sein Konto leer geräumt hatte, um zu pokern. Er wollte über das Spielen Bestätigung bekommen.

Dann kam der Fall Robert Enke ...

Stanislawski : Nachdem Andreas im Fernsehen die Worte von Teresa Enke gehört hatte, wie sie über die Depression ihres Mannes sprach, wurde ihm einiges klar. Er kam nach dem Training zu mir und sagte, Trainer, ich bin nicht spielsüchtig, ich bin depressiv. Ich war im ersten Moment natürlich überfordert. Dann haben wir beschlossen, dass er schnell professionelle Hilfe braucht. Ich habe seine Frau angerufen und bin mit ihm direkt in die geschlossene Psychiatrie des Klinikums Nord gefahren. Im Nachhinein ist mir dann vieles klarer geworden.

Was meinen Sie?

Stanislawski : Er war zum Beispiel häufig verletzt, was im Endeffekt auch daran lag, dass er wenig geschlafen hat. Sein Körper war geschwächt, dann knickt man zum Beispiel leichter um. Ich habe ihn einmal spielen lassen, weil ich dachte, ich würde ihm einen Gefallen tun. Er sagte mir später, dass es eine Katastrophe für ihn war, weil er gar keine Lust hatte. Er erzählte mir, dass er nichts mehr gefühlt hat, wenn er sein Kind auf dem Arm hielt. Ob es lachte oder weinte, es tangierte ihn nicht. Da wurde mir bewusst, wie schlimm die Krankheit ist.

Wie ist die Mannschaft mit Biermann umgegangen?

Stanislawski : Wir haben die Spieler nach seinem ersten Suizidversuch informiert und ihnen professionelle Ansprechpartner zur Verfügung gestellt. Die Spieler sind damit sehr souverän umgegangen. Natürlich waren sie geschockt, sie haben ihn aber nicht anders behandelt als zuvor. Es wurde sogar geflachst, auch von Andreas selbst.

Mit René Schnitzler hatten Sie damals einen weiteren Spielsüchtigen in der Mannschaft. Warum sind Fußballer so anfällig für Spielsucht?

Stanislawski : Viele wollen fliehen in eine andere Welt, um mal auszusteigen aus dem Alltag. Das kann man natürlich nicht, wenn man nicht auch genug Geld zur Verfügung hat. Hinzu kommt viel Zeit. Das ist ein Problem des Profifußballs. Wenn andere Zeit haben, haben die Spieler Hochkonjunktur. Wenn die Spieler dienstags frei haben, müssen alle anderen arbeiten. Du bist oft alleine oder in deiner Fußballgruppe unterwegs. Man braucht im Team aber auch Abstand voneinander, sonst geht man sich auf die Nerven.

Müssten die Vereine ihre Spieler abseits des Platzes nicht noch mehr beschäftigen?

Stanislawski : Die Trainingszentren sind mittlerweile so ausgestattet, dass man das gewährleisten könnte. Die Spieler müssten sich vor und nach dem Training noch mehr mit ihrer Arbeit auseinandersetzen, aber da fehlt das Kon­trollorgan. Natürlich bekommen wir Trainer mit, wer zocken geht. Aber es muss schon ein Eigenantrieb des Spielers da sein, man kann ihnen nicht einfach einen Psychologen vor die Nase setzen.

Dabei hat doch fast jede Bundesligamannschaft einen Psychologen ...

Stanislawski : Ich würde heutzutage umdenken. Ich würde keinen Psychologen oder Mentaltrainer für die Situationen auf dem Feld einsetzen, da sind die Jungs stabil in ihren Handlungen. Sie bräuchten aber vielmehr eine Beratung für das Leben abseits des Platzes. Was passiert, wenn du plötzlich 15.000 Euro Grundgehalt bekommst? Was passiert, wenn du auf der Straße erkannt wirst? Was passiert nach dem Fußball? Da muss es mehr Hilfestellungen geben. Viele wissen gar nicht, was sie machen sollen. Man muss die Fußballer schon in jungen Jahren beraten, wie sie mit Erfolgsdruck oder Spielsucht umgehen sollten. Die Spieler haben zwar Berater, bis auf wenige Ausnahmen passiert da aber gar nichts.

Haben Sie als Trainer psychologische Hilfe genutzt?

Stanislawski : Nein. Meine Austauschmöglichkeiten hatte ich im Trainerstab und in meiner Familie. Als Trainer bist du zwar oft ein Einzelkämpfer. Du musst die letzte Entscheidung treffen, bist in der Öffentlichkeit mitunter zum Abschuss freigegeben. Wenn man gefestigt ist, kommt man damit aber zurecht. Ich habe es immer ganz gut hinbekommen, daher brauchte ich keine Hilfe.

Trotzdem sagten Sie mal, dass Sie bei St. Pauli nah an einem Burn-out waren.

Stanislawski : Den Begriff habe ich nie benutzt. Ich habe mal gesagt, dass man irgendwann einfach ausgebrannt ist, wenn man 18 Jahre zum Inventar eines Clubs gehört. Die geistige Frische war am Ende weg, ich war nach jeder Saison ausgelaugt, hatte keine Lust mehr über Fußball zu sprechen. Da hat dann jemand den Begriff Burn-out draus gemacht.

Der nach Ihrem Ende in Köln erneut benutzt wurde ...

Stanislawski : Als ich 2013 beim 1. FC Köln zurückgetreten bin, haben viele Journalisten geschrieben, ich hätte ein Burn-out, weil sie meinen Rücktritt nicht verstanden haben. Ich habe aber einfach aufgehört, weil mir einige Sachen im Verein nicht gepasst haben. Es ist unheimlich grenzwertig, dann mit solchen Fachbegriffen rumzuschmeißen. Das wird der Krankheit nicht gerecht.

Wird man als Fußballtrainer auf psychische Erkrankungen bei Spielern vorbereitet?

Stanislawski : Man reißt das Thema in der DFB-Trainerausbildung für Fußballlehrer an, aber das reicht natürlich nicht, um die Krankheit bei einem Spieler zu erkennen. Ich habe mich verstärkt mit dem Thema beschäftigt, auch in vielen Gesprächen mit An­­dreas. Dadurch kann ich mir vielleicht minimal vorstellen, was in seinem Kopf vor sich gegangen ist. Aber ich würde mir nie anmaßen zu sagen, dass ich mich mit Depression auskenne.

Depression und Profifußball – ist das überhaupt vereinbar?

Stanislawski : Es sollte wie in jedem anderen Job auch möglich sein. Es wird aber über vieles hinweggesehen. Es geht um Geld, Werbung, Vermarktung, Darstellung. Fast jeder Bundesligist hat eine Spielfirma als Sponsor. Da müssen wir uns nicht in die Tasche lügen und sagen, wir müssen aufmerksamer sein, wenn wir gleichzeitig den Menschen überall die Möglichkeit geben, Glücksspiel zu betreiben. Am Ende ist der Fußball eben ein Geschäft, da zählt der einzelne Mensch Enke oder Biermann nicht.

Wie hat Sie der Fall Biermann in Ihrer weiteren Trainertätigkeit beeinflusst?

Stanislawski : Du wirst aufmerksamer und sensibler für gewisse Situationen. In Köln habe ich mich mal mit Adil Chihi unterhalten über seinen Glauben. Wir saßen beide auf einem Ball an die Bande gelehnt und haben ausführlich über Muslime und Christen gesprochen. Wir haben versucht uns besser zu verstehen. Das war eines der besten Gespräche, das ich als Trainer geführt habe. Ohne meine Erfahrung mit Biermann hätte ich dieses Gespräch vielleicht nie geführt, auch wenn ich mich immer aufmerksam mit Menschen beschäftigt habe.

Wie behalten Sie Biermann in Erinnerung?

Stanislawski : Andreas war ein freundlicher, höflicher Mensch, der mir leider viel zu selten gelacht hat, was im Nachhinein auch klar war. Ich werde mich vor allem an eine Situation erinnern nach seinem ersten Suizidversuch, da haben wir lange über Musik gesprochen. Ich habe ihm gesagt, dass ich immer gerne Gitarrespielen gelernt hätte. Irgendwann hat er mir als Dankeschön für unsere Gespräche eine Gitarre geschenkt. Er sagte dann: viel Spaß beim Klampfen. Diese Aufmerksamkeit werde ich ewig in Erinnerung behalten.

Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Depressionen betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Nummer:
0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222.