Ein Sieg für die Geschichte. Ein Stadtteil im kollektiven Glücksrausch. Und eine Antwort auf die Frage, warum wir Freibeuter sind.

Die Freibeuter der Liga kommen von St. Pauli - es waren einst Hausbesetzer, die mit der Totenkopfflagge das Stadion enterten. Längst ist die Fahne der Piraten zum Logo eines etwas anderen Fußballklubs geworden, der weit über die Stadtgrenzen seine Anhänger findet.

"1954 das Wunder von Bern - 1966 das Tor von Wembley - 2001 der Aufstieg von St. Pauli", prangt in großen Lettern am Tribünendach vom Millerntor. Seit Mittwoch ist ein Zusatz fällig: "2002 - der Sieg gegen Bayern!" Der 6. Februar 2002 mag vielleicht nicht in die offizielle Geschichtsschreibung eingehen, aber in die Gedächtnisse zehntausender Fans hat er sich unauslöschlich eingebrannt. 2:1 gegen den Deutschen Meister und Champions-League-Sieger, 2:1 gegen den ruhmreichen FC Bayern München. "Wir haben heute ein Stück Geschichte geschrieben", rief Paulis Stürmer Marcel Rath nach dem Spiel stellvertretend für viele. Und eine Hymne aus der Stadionanlage untermalte seine Worte mit denen von Katja Ebstein: "Wunder gibt es immer wieder - heute oder morgen werden sie geschehen".

Heute ist es geschehen. Und die Zeitzeugen des Wunders - 20 629 zahlende Zuschauer im Stadion - wärmen sich an diesem Februarabend im Mantel der Geschichte. "Davon können wir noch unseren Kindern erzählen", ruft ein grünhaariger Teenager Freude und Bier trunken nach dem Abpfiff. "Ach was - unseren Enkeln werden wir davon erzählen", antwortet sein Tribünennachbar, der kaum älter ist. Ein Dialog für viele, ein Zwiegespräch des Jubels. Überall Fassungslosigkeit und der Überschwang des Glücks. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen, das Bier fließt nicht nur die Kehlen hinunter, sondern in Fontänen über die Fans. "Das war das beste Pauli-Spiel aller Zeiten", sagt Michael Muth, der immerhin schon einige Zeit Dauerkartenbesitzer ist. In einem hysterischen Stakkato feiern die Anhänger den Sieg: "Wir hätten 3:1, nein, 4:1 gewinnen können", ruft einer. "5:1, 6:1! Wer bietet mehr?", ein anderer. Durch das Stadion und die Straßen von St. Pauli, aus den Kneipen und U-Bahn-Schächten dringen stundenlang die Hymnen von St. Pauli, die Hymnen auf St. Pauli sind.

An diesem Mittwochabend hat jede persönliche Liebesgeschichte zum Kiezklub ein neues Kapitel bekommen. Und die Botschaft, die vom maroden Millerntor in die schöne, neue (Fußball-)Welt dringt, lautet: Der Mythos lebt. Der Mythos eines Vereins, dessen 5500 Mitglieder ganz anders sind. Der Mythos von den Freibeutern der Liga, die gegen das Recht des Stärkeren und das Gesetz des Geldes opponieren. Der Mythos der Rebellion, der Mythos vom fairen Kampf der Underdogs, der selbst ernannten Milieunäre gegen die Millionäre der anderen Vereinen. Kurzum, der Mythos, der St. Pauli ausmacht.

Vielleicht war die Freude auch deshalb so groß, weil die Mannschaft den Mythos in dieser Saison bislang nur selten fühlbar machte. In der vergangenen Saison hatte sich noch eine echte Mannschaft präsentiert und das Wunder vom Kiez vollbracht: Der Klub mit dem niedrigs-ten Etat aller Proficlubs schoss damals die meisten Tore aller Proficlubs - und stieg auf. Doch die Fortsetzung dieser Erfolgsgeschichte ließ im neuen Jahr auf sich warten: Schwache Spiele, wenig Kampf, viel Krampf. Böse Zungen lästerten schon: Einige Fußballsöldner und Schönwetterkicker, die Pauli für die neue Saison verpflichtet hatte, hätten den Mythos vom Kiez nicht verstanden. Seit Mittwoch halten sie ihre Zunge im Zaum: Der Mythos St. Pauli lebt.

St. Pauli ist mehr als ein Fußballklub - St. Pauli ist für viele eine Lebenseinstellung, ein Lebensentwurf, vielleicht auch ein bisschen Ideologie. Und St. Pauli steht für einen Stadtteil: Kein Wollenberg der Eitelkeiten, sondern ein so genannter "Problemstadtteil" mit Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität auf der einen Seite. Und Kreativität, Mischung und Visionen auf der anderen Seite.

St. Pauli war und ist immer auch Politik. Das Gesicht des Freibeuters Störtebeker auf der Dauerkarte und die Piratenflaggen sind keine Merchandising-Logos, sondern Symbol für einen etwas anderen Fußballverein, geboren in der alternativen Szene des Stadtteils. Die Fanarbeit gegen Rechtsradikale wurde zum Vorbild vieler Klubs im In- und Ausland und ist bis heute Modell geblieben. Auch die Mannschaft agierte lange Zeit politisch; verhehlte nie ihre Sympathie für den Protest und die Protestler. Unvergessen ist, dass Pauli-Spieler ihr Saisonfoto einst in der Hafenstraße schossen und die Torwartlegende Volker Ippig, heute Torwarttrainer ist und früher Hausbesetzer war. Auch sportlich wirkte sich die Philosophie der Freibeuter aus - die Ära unter Trainer Helmut Schulte zählt noch immer zu den großen Zeiten des Vereins - der Mann war über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zum Klub gekommen.

"Not established since 1910" steht im Vereinswappen und betont damit noch den rebellischen Ton. "Not established" - diesen Mantel, beziehungsweise Schal, hängen sich viele Hamburger gerne um. Erst am Mittwoch präsentierte sich die Vorsitzende der GAL-Bürgerschaftsfraktion, Krista Sager im Rathaus mit dem Pauli-Schal.

Die große Politik der Paulianer mag inzwischen Geschichte sein, doch die Lust auf ein bisschen Rebellion ist vielen Fans geblieben. Fans, die regelmäßig zu den Spielen auf dem Heiligengeistfeld pilgern und sich dort im Schatten des Bunkers in einem Stadion einfinden, dass so gar nicht zu vergleichen ist mit den High-Tech-Arenen anderer Klubs. Hier harren die Anhänger auf maroden Rängen aus, wo fast immer der Wind und der Regen peitscht. Hier laufen die Mannschaften zu "Hells Bells" ein, und die Tore werden mit Blurs "Song 2" gefeiert. Hier singen, röhren, brüllen über 20 000 raue Kehlen den alten Liverpooler Fan-Song "You'll never walk alone". Auf dem Kiez verschmelzen Fußball, Rock und Popkultur. Und hier verändert sich für Stunden auch Hamburg, eine getrennte Stadt wächst plötzlich zusammen. Hier feiern alle zusammen - Punks und Besserverdienende, Neuetablierte und Altlinke, Pöseldorfer und echte Paulianer.

Und einige von ihnen, die im Kapuzenshirt mit Totenkopf auf der Gegengerade stehen und sich die Seele aus dem Leib brüllen, reisen jeden Samstag um 15.30 auch für einige Stunden in ihre eigene Vergangenheit. Tauschen noch einmal den Nadelstreifen gegen den Wollpulli und die Buntfalte gegen die Jeans. Allein die Parkplätze rund ums Stadion künden davon, dass zumindest einige Fans doch etwas etablierter sind, als ihr Verein zu sein vorgibt - Mercedes, Audi, Volvo, die neuesten Oberklasse-Modelle stehen da, aber aus den Boxen dringt noch echte Pauli-Musik: Britisch wie Blur, rebellisch wie Ton Steine Scherben oder hamburgisch wie Hans Albers - genau die Weisen, die vor den Spielen den Fans einheizen und nach den Siegen in den Kneipen rund ums Millerntor weiterdröhnen.

In diesen so seltenen Momenten wähnt man sich so manchmal längst anderswo als in der nüchternen Hansestadt. "Das ist ja fast wie Karneval in Rio", raunt Fan Jens nach dem Sieg. Karneval - nicht nur der Verkleidung mancher Fans sondern auch der Ausgelassenheit wegen. Plötzlich kreisen vor dem "Dschungel", einer Fankneipe, in der man sich nach Siegen weder bewegen noch richtig atmen kann, Schampus-Flaschen. Und auf der Reeperbahn, am Spielbudenplatz oder am Hans-Albers-Platz versinkt ein ganzer Stadtteil in braun-weißer Glückseligkeit. Doch es gibt einen Unterschied zum Karneval - der ist am Aschermittwoch vorbei, die Saison für Pauli ist es noch lange nicht.

(Erschienen am 08. Februar 2002 in der "Welt" , der Autor ist heute stellvertretender Chefredakteur des Abendblatts)