Freude pur. Remmidemmi in den Seitenstraßen. Das neue Lebensgefühl, wenn ein Stadtteil erstklassig wird - ein Lustspiel in drei Akten.
Hamburg. Akt - das Vorspiel. In der Roten Katze auf der Reeperbahn ist schon vor dem Anstoß Abpfiff. "Total tote Hose", meint Ossi aus Eimsbüttel. Sein brauner Kapuzenpulli mit dem Totenkopf signalisiert, was Sache ist: Aufstieg! Aber anders als in der Bar angepriesen. Mit zwei Kumpels trottet er singend weiter: "Tor, Tor, Millerntor!" Das Moulin Rouge lässt das Trio ebenfalls links liegen. "Freistoß für die Liebe", kobert die Dame mit dem rot-weißen Bowler vor der Spelunke. Zumindest heute jedoch ist die Darbietung der kickenden Heroen aufregender. "Gipfel der Gefühle", steht auf einem Fan-Transparent.
Während sich die Hauptpersonen im Stadion für das finale Match aufwärmen, feiert sich das Fußballvolk vor den Toren selbst - in lautstarker Eintracht mit den Zaungästen aus Paderborn. Partystimmung ist angesagt. Freudetrunken, überschäumend, bisweilen hochprozentig. Vor dem Fancontainer an der Nordkurve erstehen zwei Sportfreundinnen das Outfit für die Orgie danach: ein T-Shirt "Retterin" für 14,95 Euro, eine Jacke für 19,95 Euro. "Weltkulturerbe" steht darauf. Passt. Nebenan verkauft ein Typ mit Baskenmütze die Fanpostille "Übersteiger". Titel: "Der Ivan kommt!" Gemeint ist Stürmer Ivan Klasnic, der verlorene Sohn, den sich viele ins Profiteam zurückwünschen. Wenn in der neuen, erstklassigen Saison der HSV, Werder oder die Bayern zum Tanz ins Freudenhaus gebeten werden.
"Duelle mit Ribéry, Robben & Co. sind natürlich eine ganz andere Nummer", sagt Oberkommissar Heiko Höpner vom Revier Lerchenstraße. "In den letzten Tagen liefen viele Menschen mit stolzgeschwellter Brust durch den Stadtteil, die im Alltag nicht immer Anlass dazu haben." Dies fördere die Harmonie der Kulturen. Der gebürtige St. Paulianer weiß, wovon er spricht. Weil er seine Jugend direkt neben dem Platz erlebte - als Sohn des Hausmeisters der benachbarten Schule mit Blick vom Kinderzimmer auf die alte Haupttribüne. Und weil er als bürgernaher Beamter im Karoviertel weiß, wie die Anwohner ticken. Das Spiel selbst verbringt Höpner im Container der Polizei-Einsatzleitung - als Verantwortlicher für die Videoaufzeichnungen in der Arena. Als Fan im Beruf. Ein Traum.
Auch Lasse aus Lübeck hat Träume. Auf den Schultern seines Vaters sitzend, fahndet er per Plakat nach zwei Eintrittskarten: "Aus dringendem Grund." Derweil Lasse hofft, ist Tanja Schär-Uth ganz warm - nicht nur ums Herz. In der Bratwurstbude vor der Geschäftsstelle hat sie Anteil daran, dass die Zuschauer gestärkt im Stadion erscheinen. Currywurst und Krakauer à zwofuffzich gehen am besten. "Für den Kiez ist der Aufstieg eine große Nummer", meint sie. "Oben ist oben. Und höher geht's nicht." Für sie selbst bringe die erste Klasse auch Nachteile. Weil die Heimspiele fortan verstärkt sonnabends ausgetragen werden. Nicht leicht zu organisieren für eine Mutter. Aushilfen sind nun schwerer zu finden. "Was soll's!" ruft sie und wendet die Wurst. Akt - Jetzt geht's los!
Anpfiff im Stadion, Remmidemmi in den Seitenstraßen. Aus Richtung Pferdemarkt und Glacischaussee bewegt sich eine braun-weiße Karawane gen Reeperbahn. Welch Segen für durstige Seelen, dass ausreichend Zapfstellen locken. Nicht nur im Knallermann, im Goldenen Handschuh oder im Tipptel II finden 0,33-Liter-Knollen Astra reißenden Absatz. "Weltpokalsiegerbesiegerjubiläum", prangt auf Werbeschildern. In Anspielung auf den 100. Geburtstag des Kiezklubs. Passend zum Aufstieg. Oder umgekehrt.
Nicht jeder mag den Trubel; stille Genießer laben sich in aller Ruhe an der Fußballfiesta. So wie der Hotelier und Immobilienmanager Andreas Fraatz, Enkel von Willi Bartels, dem legendären "König von St. Pauli". "Ich gucke mir das Spiel auf Sky beim Nachbarn an", hat Fraatz schon vorher verraten. Jubiläum und Sprung in die Bundesliga, das habe "Stani perfekt getimt". Vom 20. August an werde nicht nur Bayern München das Fürchten gelehrt. Geschäftlich verspreche er sich für das familieneigene Hotel Hafen Hamburg ein kleines wirtschaftliches Plus. Weil vielleicht doch noch mehr Fantouristen als bisher länger "auf der Ecke" bleiben. Um den Aufsteigern noch näher zu sein, freuen sich Fraatz und Freunde künftig über vier Dauerkarten. Nicht im VIP-Bereich, sondern ganz normal.
"You'll never walk alone", hallt es um 15.10 Uhr durch die Clemens-Schultz-Straße. Das weibliche Quartett mit den Freibeuter-Shirts meint es wörtlich: Spontan schließen sich ein paar Jungs türkischer Abstammung an. Ziel: Gipfel der Gefühle. Auf zum Spielbudenplatz.
15.19 Uhr. Ein kollektiver, heiserer Schrei aus der Eckkneipe verführt zum Zwischenstopp. Eine Horde schwarz gekleideter Freaks springt nach draußen. "1:0 für uns!" brüllt einer. Was Konsequenzen hat: Lucinee Der Karapetian und die anderen Mädels hinter der Theke setzen das Versprechen des Miller-Wirts in die Tat um: Pro Volltreffer eine Lokalrunde. "Saure" und "Mexikaner" werden gereicht. Auf Tabletts. Aufs Haus. Ebenso wie das 50-Liter-Fass Bier, das für den Abpfiff bereitsteht, um gelenzt zu werden. Gratis. Weil Feiertag ist.
"Man spürt den neuen Stolz im Stadtteil", sagt Lucinee. Sie selbst interessiere sich weniger für Fußball, freue sich jedoch über das gute Klima derzeit. Der FC St. Pauli sei aktuell Thema Nummer eins. Was dazu beitrage, dass im Miller mächtig was los ist. Sichert Arbeitsplätze. Garantiert Spaß.
+++ Analyse: Kiezklub wächst auf Kosten des Kults +++
Kollegin Beate, Tresen-Koryphäe aus der Schankwirtschaft Dieze am Grindel, hat sich freigenommen, um den Aufstieg hautnah zu erleben. "Zu Muttertag die Mutter aller Erfolge", philosophiert sie. Und spricht ganz ungeniert vom künftigen deutschen Meister in Braun-Weiß. Knapp vor dem SV Werder und weit vor dem HSV. "Wirst sehen", schwört sie, schwenkt ihren Fanschal und geht des Weges. So ein Tag, so wunderschön wie heute. Eines ist sicher: Er wird nicht so schnell vergehen. Garantiert nicht. Im Miller ist frühestens um vier Zapfenstreich.
Akt - finale Fiesta St. Pauli
17.18 Uhr. Der Schlusspfiff im Stadion ein paar Weitschüsse weiter bedeutet auf der Reeperbahn den Start einer langen Nacht. Per Großmonitor wird der Jubel direkt transferiert. Zehntausende tanzen im Takt des Triumphes, und immer wieder wird der "Millerntor Roar" angestimmt. "Forza Pauli", rufen sie, liegen sich in den Armen, lassen das Bier zischen.
Nur Stefan Kruse nicht. Der Flugkapitän aus Aukrug ist Chauffeur für seine Freunde Carsten und Ulli, allesamt "seit Jahrenden" Dauerkartenkunden Stehplatz Nord. "Mehr denn je stellt der FC St. Pauli eine echte Alternative zum HSV dar", frohlockt Kruse. Sein untrügliches Gefühl: "Jetzt kommt Pep in die Bundesliga!" Und dass der Klub zum Finale 1:2 verloren hat? "Das ist die schönste Niederlage aller Zeiten", entgegnet er - und taucht ein in einen Jubel, der nicht enden wird. Zumindest nicht an diesem Tag.