“Mein Moment“ ist die Abendblatt-Serie zur Aufstiegssaison des FC St. Pauli. Heute im ersten Teil: Trainer Holger Stanislawski.
Hamburg. 20 Siege aus 33 Spielen und ein ebenso beeindruckendes Torverhältnis von 71:35 Treffern. Magische Momente hatte es für den FC St. Pauli in dieser Saison einige gegeben. Die Schützenfeste in Aachen (5:0), Karlsruhe (4:0) und Koblenz (5:1), das hochklassige 2:2 gegen den MSV Duisburg am Millerntor oder die beiden vergangenen Heimspiele gegen den FC Augsburg (3:0) und Koblenz (6:1) verzückten nicht nur die eigenen Fans und begründen das Image des Aufsteigers. St. Pauli steht für Attraktivität, Kurzpass, Spielfreude und jede Menge Tore, kurzum: technisch versierten Offensivfußball.
Insofern mag es etwas verwundern, dass ausgerechnet beim Begründer der neuen Spaßkultur am Millerntor, Trainer Holger Stanislawski, ganz andere Szenen vor dem geistigen Auge ablaufen, wenn er an den für ihn entscheidenden Moment dieser Aufstiegsspielzeit denkt. "Es war am 16. Oktober, 9. Spieltag, auswärts in Oberhausen", sagt der Trainer und hält kurz inne, um sein Staccato noch einmal gedanklich zu überprüfen. "Ja, 9. Spieltag. Oberhausen."
Einen 3:1-Sieg für den FC St. Pauli weist die Saisonchronik für diesen 16. Oktober aus. Die Torschützen: Marius Ebbers, Florian Bruns und Max Kruse. Doch es ist nicht das Ergebnis und es sind auch nicht die Personen, die Stanislawski dieses Spiel so denkwürdig erscheinen lassen. "Es ist die Art und Weise, wie wir dort aufgetreten sind, wie wir beharrlich unsere Philosophie verfolgt haben. Trotz des Rückstands und trotz der Rahmenbedingungen. An diesem Abend habe ich gesehen, dass die Mannschaft an sich glaubt, dass sie ihren Stärken ungeachtet aller Begleitumstände voll vertraut", begründet der Trainer.
Oberhausen ist zwar namentlich Rot-Weiß, auf der Farbpalette der Zweiten Liga aber dennoch für viele im Graubereich beheimatet. Die Mannschaft ist auf Konter ausgerichtet, reagiert, steht tief gestaffelt in der eigenen Hälfte. RWO als Gegenpol der Tormanufaktur vom Kiez. Statt des "Underdogs" könnte auch eine Maus die Rolle des Maskottchens besetzen. Das Niederrheinstadion ist mit seinen Laufbahnen weitläufiger als andere und das Oval auf den Rängen bestenfalls übersichtlich gefüllt. Trotz des Flutlichts wirkt die Szenerie matt und dunkler als gewöhnlich, so als hätte man Neonröhren durch Energiesparlampen ersetzt. "Besondere Vorfreude lässt so ein Spiel nicht aufkommen", gesteht Stanislawski. Auswärts in Oberhausen: eine Pflichtaufgabe.
Böige Winde und Regen machen die Tristesse an diesem Freitagabend vollkommen. Mit der Oberhausener Führung, die Moritz Stoppelkamp trotz Hamburger Überlegenheit erzielt, folgt in der 40. Minute der nächste Stimmungstöter. St. Pauli gerät ins Stottern, doch der Motor geht nicht aus. "Der Trainer hat uns in der Halbzeit gesagt, dass wir unser Spiel durchziehen sollen", wird Deniz Naki später erzählen. Und so behält die Stanislawski-Elf das Heft in der Hand, verfolgt ihr Konzept, kommt dank drei Toren am Ende verdient zu drei Punkten und überzeugt so ihren Trainer. "Da war mir erstmals klar, was in dieser Saison für uns möglich ist", beschreibt Stanislawski die Geburtsstunde der Aufstiegself.
Für den 40-Jährigen ein Meilenstein im Masterplan, den er seit Beginn seines Engagements als Trainer am 20. November 2006 mit den Spielern abarbeitet. In der Regionalliga, in der Zweiten Liga und ab dem Sommer nun in der Bundesliga. Bereits in seinem ersten Spiel, dem 0:3 bei Dynamo Dresden richtete er die Mannschaft offensiver aus, schulte sie im taktischen Bereich, schuf Automatismen, asphaltierte die bis dato eher zufällig verlaufenden Passwege im Angriffsspiel und hielt sie ab dem Sommer 2009 in einem "Playbook" fest. Doch Stanislawski ist mehr als ein Theoretiker, kein kühler Stratege und alles andere als ein Taktik-Professor. Es ist die große Stärke des gebürtigen Hamburgers, seine Ideen zu vermitteln, die Spieler zu motivieren, ihr Selbstbewusstsein zu stärken, sie mit Lerneffekten zu überzeugen und in der Ansprache individuell den Ton zu treffen.
Ebenso wie am 16. Oktober 2009, als der FC St. Pauli bedingungslos der eigenen Stärke und damit seinem Trainer vertraute.
Im Mittelpunkt des zweiten Teils der Abendblatt-Aufstiegsserie "Mein Moment" steht morgen Kapitän Fabio Morena.