Hamburg. Der Trainer spricht im Abendblatt über sein Jubiläum. Was Boldt von ihm fordert und warum es aktuell keine Vertragsgespräche gibt.

Die Überschrift auf der ersten Sportseite des Abendblatts vom 26. Juli 2021 machte den HSV-Fans große Hoffnung. „Endlich wieder erstklassig“ lautete die Zeile nach dem erstligareifen 3:1-Sieg des HSV zum Saisonstart beim Bundesliga-Absteiger Schalke 04. Es war ein beeindruckendes erstes Pflichtspiel unter dem neuen Cheftrainer Tim Walter, der nur wenige Wochen zuvor mit ordentlich öffentlicher Skepsis sein Amt in Hamburg angetreten hatte. Auch das Abendblatt titelte zur Verpflichtung des zuvor in Kiel und Stuttgart stets polarisierenden Trainers: „Wagnis Walter“.

Wer nach dem Spiel auf Schalke die Wette abgeschlossen hätte, dass der HSV zweieinhalb Jahre später noch immer nicht erstklassig ist, der Trainer aber trotzdem noch Tim Walter heißt, wäre wahrscheinlich um ein paar Euros reicher geworden. Der mittlerweile 48-Jährige wird auch am Sonnabend (20.30 Uhr) zum Rückrundenstart des HSV auf Schalke wieder mit seiner Wasserflasche in der Hand an der Seitenlinie stehen. Mehr noch: Für Walter ist es das 100. Pflichtspiel als HSV-Trainer. „Meine Mannschaft und ich haben gefühlt alles erlebt, was im Fußball passieren kann“, sagte Walter dem Abendblatt vor seinem Jubiläum, das nicht das letzte bleiben soll.

Walter erinnert sich an Premiere auf Schalke

Wie schon bei seiner Premiere geht es auch zum 100. Pflichtspiel in die Veltins-Arena zum Duell der beiden Traditionsclubs. Der HSV-Coach erinnert sich noch gut an sein Debüt. „Gänsehaut pur und das, obwohl nur knapp 20.000 Zuschauer in der Arena waren. Der Start für uns war denkbar schlecht: Rückstand, verschossener Elfmeter und dann unser Comeback in Hälfte zwei.“ Wie so oft unter Walter.

Dass es nun 99 Spiele später wieder zum Topspiel auf Schalke kommt, hätte sich der Trainer nicht besser einfallen lassen können. „Die Spiele gegen Schalke waren bisher immer sehr spektakulär, egal, ob auswärts oder bei uns im Volkspark. Alles schreit bei diesen Spielen immer nach Bundesliga: Die Stadien, die Fans, die Atmosphäre – einfach ganz besonders.“

Walter der elfte HSV-Trainer im Club der 100

Walter ist erst der elfte Trainer seit Datenerfassung in der Geschichte des HSV, der den Club der 100 betritt. Letztmals war es Thomas Doll im Jahr 2006 gelungen, sein 100. Pflichtspiel als HSV-Trainer zu bestreiten.

HSV-Trainer mit 100 Spielen
HSV-Trainer mit 100 Spielen

Es war eine wahnsinnig emotionale Zeit, die Walter mit dem HSV in den vergangenen zweieinhalb Jahren erlebte. Spektakuläre Spiele wie der 4:3-Sieg im Stadtderby gegen den FC St. Pauli, regelmäßige Aufholjagden, tränenreiche Niederlagen in der Relegation gegen Hertha BSC und den VfB Stuttgart, das Drama von Sandhausen, der Dopingfall Mario Vuskovic oder das DFB-Pokal-Halbfinale im eigenen Stadion. „Ich lerne viel und habe meine Jungs, diesen Club und unsere Fans unfassbar in mein Herz geschlossen. Es war und ist nicht immer einfach, gibt hier und da auch mal Gegenwind, aber ich kann das ab und habe nach wie vor Spaß an der täglichen Arbeit mit meinem Team“, sagt Walter.

Der Trainer wurde in seiner bisherigen Amtszeit konstant mit der Frage begleitet, ob er mit seiner Art und seiner Spielweise noch der Richtige ist. Sportvorstand Jonas Boldt hat diese Frage trotz aller Kritik immer wieder mit einem klaren Ja beantwortet. Nach der Hinrunde fiel dieses Ja allerdings nicht mehr ganz so klar aus.

Was Boldt an Walter in der Hinrunde missfiel

Boldt war nicht zufrieden mit der ersten Saisonhälfte, aber auch nicht mit der Außendarstellung des Trainers, der zwischenzeitlich nach den ersten Niederlagen der Saison wieder in alte Muster verfiel und sich in der Öffentlichkeit alles andere als souverän präsentierte. Trotzdem schätzt Boldt die Persönlichkeit des Cheftrainers, weil dieser sich immer in den Wind stelle und Verantwortung für die Gruppe übernehme.

Schon vor der Saison hatte die HSV-Führung mit dem Coach aber auch vereinbart, dass er die Verantwortung noch stärker auf andere Schultern verteilt. Boldt nimmt Walters Trainerteam in diesem Zusammenhang jetzt noch stärker in die Pflicht. „Spieler, Trainer und Staff sind gleichermaßen gefordert und in der Pflicht, ihren Anteil für diesen Erfolgsplan beizutragen“, schrieb der HSV nach der Hinrunden-Analyse.

Vertragsgespräche mit Walter vorerst vertagt

Grundsätzlich ist Boldt von Walters Qualitäten aber immer noch überzeugt. Trotzdem erhöht er den Druck auf den Trainer. Gespräche über den im Sommer auslaufenden Vertrag sind bis auf Weiteres vertagt. Boldt will zunächst Leistung und Siege sehen, ehe über eine erneute Vertragsverlängerung gesprochen wird.

Insbesondere die Defensive soll Walter in der Rückrunde in den Griff kriegen. Keine leichte Aufgabe für einen Trainer, der lieber 5:4 als 1:0 gewinnt. Für Walter zählen vor allem Tore. Und davon gab es in seinen bisherigen 99 HSV-Spielen einige, an die er sich gerne erinnert. „Es gab einige enorm wichtige Tore, wie zum Beispiel Ransis Treffer in der Nachspielzeit, der das halbe Stadion in Hannover zum Ausrasten brachte. Natürlich haben die Tore im Stadtderby auch immer etwas Besonderes. Richtig schön herausgespielt war auch unser Treffer zum 1:0 in dieser Saison gegen Magdeburg über acht, neun Stationen.“

Walter will an seiner Spielidee festhalten

Walter will seine mutige und offensive Spielidee auf jeden Fall nicht aufgeben. Und auch den Trainer selbst sollte man nicht zu früh abschreiben. Das ist eine wiederkehrende Erkenntnis seiner bisherigen Amtszeit. „Walters Auferstehung“ stand in einer Abendblatt-Überschrift vor seinem 50. Pflichtspiel im Herbst 2022 bei Holstein Kiel. Ein halbes Jahr nach dem vermuteten Aus nach einer Niederlage im April in Kiel hatte der Trainer die Wende geschafft. Auch dank eines Kabinenschwurs, den Boldt initiierte. Als Walter ein Jahr später im vergangenen November mit dem HSV aber wieder in Kiel verlor, mehrten sich erneut die Zweifel.

Doch der oft als beratungsresistent beschriebene Trainer hat in der abgelaufenen Hinrunde auch Anpassungen vorgenommen. Der HSV spielte phasenweise variabler. Nach dem 2:2 im Stadtderby beim FC St. Pauli am 1. Dezember schrieb das Abendblatt von „Walters Weiterentwicklung“. Anders als zuvor hatte der HSV nach einer abermaligen Aufholjagd den Punkt verteidigt, anstatt ihn wieder wie zuvor in Kiel durch die oft erlebte Waltersche All-In-Art zu verspielen.

Walter: Noch nie ein Stadion so explodieren gesehen

Mit eben jener Art hat der Trainer in seiner bisherigen Amtszeit auch immer wieder für unvergessenes Spektakel gesorgt. Walter denkt bei seinen emotionalen Höhepunkten vor allem an die Relegationsspiele. „Berlin war außergewöhnlich und ist schwer zu beschreiben, wenn man nicht dabei war“, sagt Walter. „Vor allem aber auch der Support in beiden Rückspielen im Volkspark gegen Hertha und den VfB waren unglaublich. Ich habe noch nie ein Stadion so explodieren sehen, wie beim 1:0 gegen Stuttgart. Es war einfach so unfassbar laut. Natürlich ist auch die Partie in Sandhausen eine Geschichte, die wir alle nie vergessen werden.“

Nun greift Walter in der Rückrunde nach seiner wahrscheinlich letzten Chance, den Aufstieg endlich zu schaffen. Der Trainer selbst ist überzeugt, dass dieses Vorhaben auch gelingt. „Das größte Highlight steht uns hoffentlich noch bevor“, sagt Walter. Aller guten Dinge sind eben drei. Und an diesem Wochenende 100.