Hamburg. HSV-Topstart gegen Schalke hat einen Haken: Noch sind 33 Spieltage zu spielen. Welche Bedeutung der furiose Auftakt hat.

Ganz großer Sport war bei Jonas Boldt am Sonntagmittag das Thema. Der Sportvorstand des HSV lobte das Engagement, den Einsatz und die Hingabe der Protagonisten. Es bringe ihm einfach Spaß, da zuzuschauen und möglichst alles aufzusaugen, sagte Boldt, der allerdings nicht seinen HSV meinte. Sondern die Olympischen Spiele.

In der Team Hamburg Lounge auf der Dachterrasse der Handelskammer schaute Boldt mit bestem Blick auf das Rathaus Beachvolleyball, Skaten und Turnen – und kam dann doch nicht herum, den einen oder anderen Glückwunsch entgegenzunehmen und über den großen Sport zu sprechen, den auch sein HSV am ersten Spieltag am Freitag beim 3:1-Sieg auf Schalke geboten hatte. Der allgemeine Tenor in luftiger Höhe unter den anwesenden Sportlern: Der HSV habe ein ersten fettes Ausrufezeichen in dieser Saison gesetzt.

Trotzdem gesellte sich am Tag nach dem überzeugenden Auftaktsieg auch das eine oder andere Fragezeichen dazu, als Neu-Trainer Tim Walter die Ereignisse des Vorabends einordnen musste. Wie der durchaus hübsch herausgespielte Auftaktsieg im Blockbusterspiel gegen Schalke einzuschätzen sei, wollten die Medienvertreter wissen. Und ob der Coach nun möglicherweise Sorgen habe, dass seine neue Mannschaft nach all dem geballten Lob abheben könnte. Spoiler-Alarm: nein. „Diese Befürchtung habe ich nicht“, sagte Walter. „Weil der Charakter der Mannschaft einfach gut ist.“

Der spektakuläre HSV-Fußball von Tim Walter

Genauso wie am Freitagabend auch die fußballerische Performance, die nicht nur auf dem fünften Stock der Handelskammer zu ersten Träumereien von Höhenflügen führte. Deswegen machte es sich neben Chef-Realist Boldt auch seine stellvertretende Euphoriebremse Walter zur Hauptaufgabe am Wochenende, jegliches Wunschdenken schon im Ansatz zu verhindern. „Es war der erste Spieltag. Wir sind gut beraten, entspannt zu bleiben“, sagte der Coach.

Der frühere HSV-Trainer Hannes Wolf, der am Freitag als TV-Experte bei Sat.1 im Einsatz war, belobigte die Art und Weise des ersten HSV-Erfolgs hingegen überschwänglich. „Es macht als neutraler Zuschauer einfach Spaß, Tim-Walter-Fußball zu schauen. Tim Walter ist spektakulär, in seiner Art Fußball spielen zu lassen“, sagte Wolf. „Es gibt ganz viele Positionswechsel. Plötzlich spielt der Innenverteidiger außen und der Außenverteidiger auf der Sechs. Das sieht man bei keiner anderen Mannschaft. Das ist extrem mutig. Ich finde es total interessant, total spannend und total spektakulär.“

Ganz schön viel total. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass all das auch total nach hinten hätte losgehen können. Auch Schalke hatte zahlreiche Möglichkeiten. Trotzdem sagte Walter: „Das erste Gegentor resultiert durch einen individuellen Fehler von uns. Ansonsten wäre in dieser Szene nichts passiert. Mit dem Ball war schon vieles sehr gut. Gegen den Ball waren wir intensiv und gut drin in den Zweikämpfen.“

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Walter fordert noch mehr Mut beim HSV

Die Daten des Spiels gaben Walter recht. Seine Spieler liefen mehr (117,6:115,8 Kilometer), sie spielten deutlich mehr Pässe (609:210) und sie hatten auch wesentlich häufiger den Ball (73:27 Prozent) als die Schalker. „Es war ein sehr verdienter Sieg des HSV“, urteilte Wolf, dem auch die Schalker beipflichteten. So erinnerte Trainer Dimitrios Grammozis daran, dass der HSV „eine echte Top-Mannschaft“ in dieser sehr ausgeglichen Zweiten Liga – Wolf würde wohl sagen: „total ausgeglichenen Zweiten Liga“ – sei. Neuzugang Dominick Drexler orakelte später gar: „Vielleicht steigt Hamburg mit 80 Punkten auf – und alle sagen nach der Saison: sehr gute Mannschaft!“

Das Problem an dieser Rechnung: Noch sind 33 Spieltage zu absolvieren. Das musste Walter am Sonnabend im Volkspark in etwa so häufig betonen wie Boldt am Sonntag auf der Dachterrasse der Handelskammer. „Wir können in allen Bereichen nachlegen. Es gibt noch genug Nachholbedarf. Wir haben noch 33 Spieltage Zeit, etwas besser zu werden“, sagte Walter, der trotz der zahlreichen Schalke-Chancen sogar noch mehr Risikobereitschaft seiner Mannschaft anmahnte. „Wir müssen noch mutiger werden. Für viele war es ja schon mutig, aber für mich war es nicht mutig genug.“

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Darüber darf man sicherlich streiten. So kündigte Kapitän Sebastian Schonlau bei Sky schon mal proaktiv an, dass es häufiger in dieser Spielzeit passieren könnte, dass er – wie vor dem 0:1 – als Innenverteidiger plötzlich als linker Flügelstürmer ganz vorne auftaucht – und ganz hinten fehlt: „Das gehört zu unserer Spielweise dazu. Wir ziehen einen sehr, sehr großen Mehrwert aus der Art und Weise, wie wir spielen. Natürlich verliert man auch mal den Ball und kriegt ein Gegentor. Das ist aber ein kalkuliertes Risiko“, sagte Schonlau. „Manchmal klappt es, manchmal nicht. Aber wir sind überzeugt davon.“

Walter will nur auf den HSV schauen

Mindestens einen neuen Fan hat der HSV durch diese Spielweise jedenfalls schon einmal gewonnen: Ex-HSV-Trainer Wolf. „Das ist alles sehr atypisch, aber sehr schön anzuschauen.“

Die nächste Möglichkeit hierzu gibt es am Sonntag, wenn Dynamo Dresden, immerhin erster Tabellenführer dieser noch jungen Saison, in den Volkspark vorbei kommt. Und bevor Walter die Etikette des Mahners bekommen könnte, machte der Trainer dann noch noch die Selbstbewusstsein-Schublade weit auf: „Wir wollen genauso selbstbewusst auftreten, um gar nicht die Namen der anderen Mannschaften, sondern unser Spiel in den Vordergrund zu stellen.“