Hamburg. Im DFB-Pokal muss der HSV am Sonntag bei Rot-Weiss Essen bestehen. Die RWE-Sturmlegende kennt den besonderen Standort.

Es gibt einen Moment in seinem Leben, den Günter Netzer nie mehr vergessen wird. Der damalige Manager des HSV saß am 28. April 1978 an der Essener Hafenstraße auf der Tribüne des Georg-Melches-Stadion. 2. Bundesliga Nord, Rot-Weiss Essen gegen Bayer Uerdingen. Netzer wollte sich ein genaues Bild machen von diesem Stürmer, der in 92 Spielen für RWE 85 Tore erzielt hatte. Sein Name: Horst Hrubesch.

Doch Netzer traute seinen Augen nicht. „Einen solch lausigen Fußballspieler habe ich auf einem Fußballplatz noch nie gesehen. Der konnte so gut wie nichts. Es war furchtbar“, erzählte Netzer viele Jahre später in einer NDR-Dokumentation über seine erste Beobachtung des späteren Europameisters und Europapokalsiegers der Landesmeister.

Netzer holte Hrubesch trotz Zweifel zum HSV

Netzer hatte eines der wenigen Spiele gesehen, in denen Hrubesch kein Tor geschossen hat. Trotzdem entschied er sich, den groß gewachsenen, aber technisch nicht sonderlich begabten Stürmer für die damalige Summe von 1,2 Millionen Mark zu verpflichten.

„Ich habe nicht auf ihn gesetzt, weil er ein guter Fußballspieler war. Das war er nun wirklich nicht. Ich habe auf ihn gesetzt aufgrund seiner Charaktereigenschaften. Ich habe sofort gesehen, was das für ein Charakter ist“, sagte Netzer und landete mit der Verpflichtung den wohl größten Volltreffer seiner Managerzeit in Hamburg.

976 schoss Hrubesch gegen Franz Beckenbauers Bayern beim 3:3 ein Tor.
976 schoss Hrubesch gegen Franz Beckenbauers Bayern beim 3:3 ein Tor. © Imago

45 Jahre später kehrt Hrubeschs HSV an die Hafenstraße zurück. Der heutige Nachwuchsdirektor des Clubs wird zwar nicht persönlich dabei sein, wenn der HSV am Sonntag (13 Uhr/Sky) in der ersten Runde des DFB-Pokals beim Drittligisten Rot-Weiss Essen antritt. Doch der 72-Jährige wird auch am Fernseher spüren, was das 2012 neu gebaute Stadion an der Hafenstraße noch immer für RWE bedeutet.

Der Mythos Hafenstraße

„Wer nach Essen fährt, weiß, was auf auf ihn zukommt“, sagte Hrubesch vor dem Spiel im Gespräch mit dieser Redaktion. „Die Hafenstraße war schon früher eine Hölle. Das Stadion ist leider nicht geschlossen wie zu meiner Zeit, sonst wäre es ein Traum. Aber die Stimmung wird trotzdem hervorragend sein.“

Seit mehr als 100 Jahren spielt RWE nun schon an der Hafenstraße. Der frühere Bergwerksdirektor Georg Melches, gleichzeitig Mitbegründer des Vereins, hatte das Stadion kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieg für eine Kapazität von 30.000 Zuschauern ausbauen lassen.

Doch während des Krieges wurde das Gelände völlig zerstört. Zusammen mit Vereinsmitgliedern ließ Melches das Stadion nach Kriegsende aus den Trümmern wieder aufbauen.

Essen wurde Pokalsieger und Deutscher Meister

Es folgte die erfolgreichste Ära der Vereinsgeschichte mit dem DFB-Pokalsieg 1953 und dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft 1955. Melches machte die Heimspielstätte daraufhin mit einer der ersten Flutlichtanlagen und einer Multifunktionstribüne zum damals modernsten Stadion Deutschlands, das 1964 ein Jahr nach dem Tod des RWE-Machers offiziell in Georg-Melches-Stadion benannt wurde.

In den 1970er-Jahren erlebte der Mythos Hafenstraße dann seine zweite große Zeit. Vor allem dank Horst Hrubesch, der 1975 für 72.000 D-Mark vom SC Westtünnen kam. Zusammen mit Spielern wie Willi Lippens, Manfred Burgsmüller und Werner Lorant etablierte sich Essen wieder in der Bundesliga, ehe 1977 der erneute Abstieg erfolgte.

Hrubesch blieb trotzdem noch ein Jahr, verpasste den Wiederaufstieg aber knapp und wechselte dann zum HSV. „Meine Verbindung nach Essen ist nie abgerissen“, sagt Hrubesch heute. „RWE ist für mich, wo alles begann. Ohne Essen wäre ich nicht so weit gekommen. Dass ich dort damals die Chance bekommen habe, werde ich nie vergessen.“

Walter erlebte seine Premiere an der Hafenstraße

Aus dem Hexenkessel an der Hafenstraße ist heute ein Stadion mit vier Einzeltribünen geworden, das mit seinen Fans aber immer noch eine große Kraft entfalten kann. Das weiß auch HSV-Trainer Tim Walter. „Von Horst habe ich schon einige Geschichten gehört“, sagte Walter, der am Sonntag das erste Mal an der Hafenstraße zu Gast ist.

„Die zwei Vereine werden nur durch eine Liga unterschieden. Tradition und Leidenschaft haben sich beide Clubs auf die Fahne geschrieben. Wir wissen, dass es dort sehr hitzig wird“, sagte der HSV-Coach auf der Pressekonferenz.

Walters Trainerkollege Christoph Dabrowski bevorzugt zwar auch den spielerischen Ansatz, doch am Sonntag wird es auf andere Tugenden ankommen. Tugenden, die im Ruhrpott gelebt werden: Kämpfen und Malochen. So wie es Hrubesch, ein Kind des Potts, immer getan hat und damit auch Günter Netzer überzeugte. „Mit der intensiven Art und Weise, wie ich Fußball gespielt habe, kam ich in Essen gut an“, sagt Hrubesch.

Hrubesch musste in Essen erste Trainerentlassung verdauen

1986 wurde er nach seiner Spielerkarriere für eine Saison Trainer bei RWE und stabilisierte den zwischenzeitlich in die Regionalliga abgestiegenen Verein wieder in der Zweiten Bundesliga, ehe er in der Saison darauf die erste Trainerentlassung seiner Karriere verdauen musste. Und auch die Essener erlebten eine Berg- und Talfahrt mit vielen Auf- und Abstiegen sowie wirtschaftlichen Problemen, die 2010 mit einem Insolvenzantrag ihren negativen Höhepunkt erfuhren. Rot-Weiss Essen war plötzlich nur noch fünftklassig.

Horst Hrubesch, hier mit Zigarette, war von 1986 bis 1987 RWE-Trainer.
Horst Hrubesch, hier mit Zigarette, war von 1986 bis 1987 RWE-Trainer. © Imago

Die Liebe der Fans hat an der Hafenstraße aber nie gelitten. RWE schaffte 2022 mit dem Aufstieg von der Regionalliga in die Dritte Liga die Rückkehr in den Profifußball. Heute ist der Verein neben dem HSV einer der ganz wenigen Clubs im bezahlten Fußball, die ihr Stadion noch nach ihrem Standort benennen.

Für fast alle HSV-Profis wird es am Sonntag ihr erstes Mal im Stadion an der Hafenstraße. Hrubesch weiß, dass sie dieses erste Mal nicht so schnell vergessen werden. „Wir müssen Vollgas geben, um dort zu gewinnen“, sagt der frühere Essener, der das Spiel am Sonntag mit gemischten Gefühlen im TV verfolgen wird. „Mein Herz schlägt definitiv für beide Clubs“, sagt Hrubesch. „Ich denke aber, dass wir eine Runde weiterkommen.“ Mit dem „wir“ ist zumindest an diesem Wochenende der HSV gemeint.

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