Hamburg. Im Volkspark werden seit diesem Jahr die Hirnströme der Spieler gemessen. Was der Club damit bewirken will.
Der Kopf von Robert Glatzel war verkabelt, als er am Donnerstagmittag zum Elfmeter antrat. Der HSV-Stürmer konzentrierte sich auf seinen Anlauf, dann schoss er den Ball ins Tor. Immer und immer wieder. Nachwuchstorhüter Hannes Hermann konnte gegen Glatzel kaum einen Elfmeter halten. Wenige Meter daneben saß Niklas Häusler und blickte zufrieden auf seinen Bildschirm. Auf diesem konnte der 34-Jährige direkt die Hirnströmungen von Glatzel verfolgen. Der HSV-Torjäger trug eine Art Helm, mit dem er die Aktivität seines Gehirns direkt auf die Ohren übertragen bekam.
Was für die Zuschauer im Volkspark etwas komisch ausgesehen haben muss, ist eine neue Trainingsmethode, die beim HSV seit diesem Jahr zum Einsatz kommt. Neuro11 heißt das Unternehmen, das der promovierte Neurowissenschaftler und Psychologe Niklas Häusler von der Universität Bonn zusammen mit seinem Geschäftspartner Patrick Häntschke entwickelt hat. Im vergangenen Herbst lud der HSV die Projektgründer in den Volkspark ein. Daraus ist eine Partnerschaft entstanden, die HSV-Sportvorstand Jonas Boldt mit dem Startup abgeschlossen hat.
Elfmeterschießen am Sonntag bei Rot-Weiss Essen möglich
Am Sonntag (13 Uhr) könnte Häusler mit seiner Arbeit dazu beitragen, dass der HSV bei Drittligist Rot-Weiss Essen in die zweite Runde des DFB-Pokals einzieht. Schließlich ist es durchaus möglich, dass das Spiel an der Hafenstraße im Elfmeterschießen entschieden wird. Und genau darauf haben sich die Gründer des Projekts spezialisiert.
„Wir messen bei unseren Sportlern die Zustände des Gehirns und trainieren mit ihnen, wie sie diese Zustände steuern und für sich im Wettkampf optimal nutzen können, um beispielsweise in wiederkehrenden Spielsituationen genauer zu schießen“, sagte Häusler vor dem Pokalspiel dem Abendblatt.
Jürgen Klopp war der erste Kunde von Neuro11
Ihren Durchbruch im Fußball verdanken die Neurowissenschaftler dem Trainer des FC Liverpool, Jürgen Klopp. Als sie vor vier Jahren ihre Methode entwickelten und ein Startup gründeten, überlegten sie, wer für die Nutzung infrage käme. Häusler und Häntschke dachten groß. „Durch mehrere Interviews, Berichte und Bücher war relativ schnell klar, dass Jürgen Klopp der optimale Ansprechpartner sein könnte“, erzählt Häusler.
In der Saison 2021/22 war es dann so weit: Regelmäßig trainierten Liverpools Superstars wie Mohamed Salah oder Roberto Firmino mit den Hirnforschern von der Universität Bonn. Am Ende gewann Liverpool sowohl den Ligapokal als auch den FA Cup im Elfmeterschießen gegen den damals noch von Thomas Tuchel trainierten FC Chelsea. „Ihr Einfluss ist unglaublich“, sagte der begeisterte Klopp.
Benes bereits mit zwei Standardtoren in dieser Saison
Was für Salah und seine Mitspieler beim FC Liverpool mittlerweile zum Trainingsalltag gehört, nutzen nun auch die HSV-Profis um Glatzel und Laszlo Benes, der an den ersten zwei Spieltagen bereits zwei Standardtore erzielt hat. Eines per Elfmeter gegen Schalke, eines per Freistoß in Karlsruhe. Seit Monaten probiert der Slowake im Training die neue Technik aus. Offenbar mit Erfolg. Insbesondere sein Freistoßtor beim KSC, bei dem er sich kurz vorher in seiner Konzentrationsphase mit geschlossenen Augen auf den Schuss vorbereitete, war sehenswert.
„Laci ist extrem offen, Bobby und die anderen Spieler auch“, sagt HSV-Co-Trainer Merlin Polzin über die beiden ersten Elfmeterschützen des HSV, Benes und Glatzel. „Es ist auch eine Qualität, inwieweit du trainierbar bist und dich coachen lässt. Die Spieler wissen, dass es ein paar Prozent sind, die ihnen helfen können.“
So funktioniert die Hirnstrommessung
Polzin kümmert sich im Trainerteam des HSV neben dem für die Standardsituationen verantwortlichen Filip Tapalovic um die Koordination mit Neuro11. Seit der Rückrunde der vergangenen Saison kommt Häusler mit seinem Team einmal im Monat für ein bis zwei Tage in den Volkspark, um mit den potenziellen Standardschützen zu trainieren. Konkret können die Spieler dabei durch die Verkabelung direkt per auditiver Übertragung spüren, wie sich ihre Hirnströmung verändert.
Die Neurowissenschaftler haben in ihren Studien den für Standardsituationen optimalen Frequenzbereich festgestellt. „Erreichst du diese Frequenzbereiche, erhältst du ein akustisches Signal“, erklärt Polzin, der seine Spieler dabei aus der Ferne verfolgt. Sie sollen nicht das Gefühl haben, dass sie von den Trainern beobachtet werden.
Hinterher analysiert Polzin dann gemeinsam mit Häusler, wie die Ergebnisse ausgefallen sind und welche Fortschritte sie gemacht haben. Die Spieler lernen dadurch, sich vor der Ausführung eines Standards in den optimalen mentalen Zustand zu versetzen. Anhand von Grafiken können sie ihre eigenen Hirnströmungen im Moment der Schusssituationen überprüfen, um den richtigen Bereich zu erreichen. „In dem Frequenzbereich hast du eine höhere Wahrscheinlichkeit, den Standard technisch sauber auszuführen“, sagt Polzin.
Projekt ist beim HSV langfristig angelegt
Wichtig ist dem Trainer dabei zu betonen, dass die Arbeit mit Neuro11 nicht gleichbedeutend garantiert, dass die HSV-Spieler nun alle Elfmeter verwandeln. „Es geht darum, in jedem Bereich das Maximum herauszuholen und Dinge noch bewusster zu machen. Das bedeutet nicht, dass jetzt jeder Elfmeter oder jeder Freistoß automatisch reingeht“, sagt Polzin. „Wichtig ist uns, einen langfristigen Prozess aufzubauen und ein Bewusstsein für Situationen zu schaffen. Damit wollen wir die Spieler besser machen und weiterentwickeln.“
Sportvorstand Boldt ist bekannt dafür, moderne Methoden im Bereich des Mentaltrainings beim HSV auszuprobieren. Im Trainingslager in Österreich ging es für die Mannschaft etwa zum Apnoetauchen – eine andere Form des Konzentrationstrainings. Auf einen festen Mentaltrainer verzichtet Boldt seit dem Ende der Zusammenarbeit mit Potenzialtrainer Martin Daxl im Sommer 2021 aber bewusst. Der HSV hält es für nachhaltiger, wenn seine Spieler langfristig und auf privater Vertrauensbasis mit einem Mentaltrainer zusammenarbeiten, sofern diese dazu bereit sind.
Mit Neuro11 hat der HSV nun aber einen Partner im Bereich der Psychologie gefunden, der sich im Volkspark weiter etablieren soll. „Wir sind auf ein großartiges und wirklich innovatives Team um Jonas Boldt und Tim Walter gestoßen. Die Potenziale im mentalen Bereich wurden direkt erkannt“, sagt Häusler. „Wir möchten den Verein und natürlich vor allem die Spieler dabei unterstützen, insbesondere in den Momenten, wenn‘s drauf ankommt, auf dem Platz voll fokussiert und am Ende akkurater zu sein.“
Hirnmessung bald auch im laufenden Spiel?
Bislang konzentrieren sich die Projektentwickler hauptsächlich auf Standards. Künftig sollen aber auch die Torhüter teilhaben. Zudem arbeiten Häusler und Häntschke daran, die Hirnforschung im laufenden Spiel zu implementieren. Schließlich geht es bei jedem Pass um den perfekten mentalen Zustand zwischen Anspannung und Entspannung. Die Macher von Neuro11 sprechen davon, dass die Fußballer „im flow“ sein müssen.
Doch das ist erst der nächste Schritt. „Wir erheben Daten, welche bei zu vielen Bewegungen leider nicht nutzbar sind“, sagt Häusler. „Wir haben jedoch mittlerweile auch Methoden entwickelt, wie wir den Transfer für weitere Spielsituationen optimieren können.“
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In der Gegenwart geht es für den HSV also zunächst einmal darum, die Möglichkeiten aus Standardsituationen zu optimieren. Schon am Sonntag könnte es passieren, dass nach einer möglichen Verlängerung gleich mehrere HSV-Spieler zum Elfmeter antreten. In der Saison 2021/22 schafften es die Hamburger auch ohne Neuro11, durch drei erfolgreiche Elfmeterschießen in Folge bis ins Halbfinale des DFB-Pokals einzuziehen.
Eine Geschichte, die sich aus HSV-Sicht gerne wiederholen darf. Und zu der auch die Hirnforscher beitragen sollen.