Hamburg. Das Duell zwischen dem HSV und dem FC St. Pauli am kommenden Freitag verspricht eine Brisanz wie lange nicht. Alles Wissenswerte.

Jonas Boldt hielt das Gleichgewicht, als er über eine Rampe flog. „Auf dem Sprung in die neue Woche“, schrieb der Sportvorstand des HSV auf seiner privaten Instagram-Seite. Der 41-Jährige hatte auf dem Rückweg aus Kaiserslautern beim Wasserski eine abkühlenden Zwischenstopp eingelegt. Es war Boldts Sprung in die Derbywoche, in der es für den HSV und den FC St. Pauli um viel geht. Wird das 109. Stadtderby vorerst das letzte sein? Oder sieht man sich in der neuen Saison wieder? Eine erste Antwort auf diese Frage gibt es am Freitag ab 18.30 Uhr im Volksparkstadion. Was die Anhänger der beiden Hamburger Zweitligisten bis dahin wissen müssen.

Die Hoffnungsträger und Sorgenfälle

HSV: Wenn der HSV am Dienstagnachmittag in die Trainingswoche startet, könnten zwei Hoffnungsträger womöglich wieder dabei sein. Rechtsverteidiger Moritz Heyer hat seine schwere Erkältung auskuriert. Ob Jonas Meffert schon wieder mit dem Team trainiert, ist noch offen. Der Mittelfeldstratege hatte am Sonnabend beim Aktivierungstraining über Wadenprobleme geklagt, die einen Einsatz unmöglich machten. Schwerwiegender sollen die Probleme aber nicht sein.

Meffert, der am Sonntagabend zu Besuch war bei den Basketballern der Hamburg Towers, dürfte es spätestens bis zum Abschlusstraining am Donnerstag schaffen, wieder mit der Mannschaft zu trainieren. Am Morgen war er bereits wieder mit der Mannschaft im Volkspark joggen. Dass seine Wade nicht noch einmal im UKE per MRT untersucht werden muss, bestätigt die Einschätzung, dass die Verletzung nicht so schwerwiegend ist.

Das Positive: Durch seinen Ausfall in Kaiserslautern entging Meffert der Gefahr, nach einer Gelben Karte für das Derby möglicherweise gesperrt zu sein. Das Negative: Mit Meffert hätte es auf dem Betzenberg möglicherweise zu einem Punkt gereicht. Sein Vertreter Ludovit Reis beging vor beiden Gegentoren entscheidende Fehler. Der Niederländer könnte dann im Derby wieder auf der Acht spielen. Dann muss Trainer Tim Walter entscheiden, ob er Laszlo Benes oder den in Kaiserslautern gut aufgelegten Anssi Suhonen auf die Bank setzt. Durch die Rückkehr von Heyer könnte der auf dem Betzenberg erneut schwache Miro Muheim ebenfalls aus der Startelf fliegen. Noah Katterbach hinterließ in den vergangenen Wochen den besseren Eindruck.

FC St. Pauli: Die wichtigste Frage ist, ob Abwehrchef Eric Smith rechtzeitig zum Derby seine Probleme am Hüftbeuger überwunden hat. Der Schwede wurde in den Spielen gegen Heidenheim und Braunschweig zentral in der Dreierkette von Jakov Medic vertreten – ersetzt wurde er nicht. Insbesondere beim Spielaufbau hat Smith eine ganz besondere Qualität, die dem FC St. Pauli doch gefehlt hat.

Smith absolvierte in der vergangenen Woche zwar wieder Lauftraining und arbeitete auch mit dem Ball, der Genesungsprozess dauert aber offenbar länger als erhofft. „Dass er gegen Braunschweig nicht gespielt hat, war keine Vorsichtsmaßnahme“, sagte Trainer Fabian Hürzeler, „er hatte noch etwas bei Richtungswechseln gespürt, ich hoffe, dass er Dienstag oder Mittwoch wieder voll ins Mannschaftstraining einsteigen kann.“

Gegen Braunschweig mussten auch Connor Metcalfe und Manolis Saliakas den Platz angeschlagen verlassen. Der Australier hatte nach einem Zusammenprall mit Bencic eine Platzwunde am Kopf erlitten und blieb zur Pause in der Kabine. Saliakas musste in der 77. Minute mit muskulären Problemen raus. Ob sie bis Freitag fit sind, wird sich erst in der Woche zeigen.

Der Ablauf bis zum Anpfiff

HSV: Möglicherweise werden die Spieler am Dienstagnachmittag etwas später auf dem Trainingsplatz erscheinen. Um die Partie in Kaiserslautern abzuhaken, findet die Videoanalyse des jeweils letzten Spiels in der Regel vor dem ersten Training der Woche statt. Gegen Ende der Woche widmet sich die Mannschaft dem Gegner St. Pauli. Dann guckt auch Tim Walter die Zweitligaspiele.

Beim HSV ärgerte man sich über das aus dem Zusammenhang gerissene und im Netz verbreitete Zitat, dass der Trainer Zweite Liga nie gucken würde. Spätestens bei der Spieltagsbesprechung im Hotel Grand Elysee wird Walter dann auch über St. Pauli sprechen. Wie beim HSV üblich, dürfen die Spieler bei Heimspielen die Nacht vor der Partie zu Hause verbringen.

St. Pauli: Das Trainingsgelände des FC St. Pauli an der Kollau bot am Montag ein Bild des Friedens. Wo sonst am Tag nach einem Spiel die Reservisten ihr Spielersatztraining bestreiten und die Stammkräfte durch das Niendorfer Gehege ausradeln, passierte diesmal nichts. Nur die Greenkeeper waren damit beschäftigt, den Rasen zu pflegen, damit sich die Profis ab diesem Dienstag bei besten Bedingungen auf das Derby gegen den HSV vorbereiten können.

Fabian Hürzeler hatte seiner Mannschaft nach der Niederlage am Sonntag frei gegeben. Der Montag war die einzige Möglichkeit dafür. „Wir wollen, dass sie im Kopf frisch sind und sich vom Spiel erholen können“, erklärte er. Denn schon am Dienstag wird neben dem Körper auch der Kopf wieder gefordert sein. Dann wird per Video noch einmal das Spiel gegen die Eintracht analysiert – und die Fehler, die zur ersten Niederlage nach zehn siegreichen Spielen geführt haben. Am Mittwoch beginnt dann schon die konzentrierte Vorbereitung auf den HSV: „Wir werden uns wie immer zwei Tage vor dem Spiel mit dem Gegner befassen.“

Das findet auf dem Trainingsplatz dann ohne Öffentlichkeit statt. Nur am Dienstag sind die Fans ab 11.30 Uhr zugelassen. Am Mittwoch steht Hürzeler ab 8.45 Uhr der Presse Rede und Antwort – und danach ist der FC St. Pauli ganz bei sich, bevor es am Freitagmittag in ein Tageshotel geht und anschließend mit dem Bus in den Volkspark.

Die Stimmung in den Mannschaften

HSV: Unter Tim Walter präsentierte sich das Team in den vergangenen eineinhalb Jahren als Einheit. Damit das auch so bleibt, braucht die Mannschaft nun aber wieder ein Erfolgserlebnis im Derby. Das Vertrauen in die eigene Spielweise ist grundsätzlich groß. Allerdings äußerte Robert Glatzel auch Kritik über das zu hohe Risiko, das zum ersten Gegentor in Kaiserslautern führte. „Wir schenken uns die Tore selbst ein. Das geht einfach nicht“, sagte der Torjäger, der bereits auf dem Platz nach der Szene mit Kapitän Sebastian Schonlau diskutierte. Grundsätzlich gingen die Spieler trotz der Enttäuschung am Betzenberg schnell wieder in den Angriffsmodus. „Es ist ein entscheidendes Spiel, auch für unsere Fans. Das ist jetzt das wichtigste Spiel der Saison“, sagte Glatzel. Trainer Walter muss es gelingen, in der Mannschaft eine Vorfreude auf das Spiel zu entwickeln. Schließlich steht einiges auf dem Spiel.

St. Pauli: Die Pleite gegen Eintracht Braunschweig hat das Team schnell abgehakt. „Dass unsere Serie irgendwann einmal reißen würde, war doch klar“, sagte Co-Kapitän Leart Paqarada. Auch Angreifer Lukas Daschner wollte sich nicht zu sehr über die erste Heimniederlage der Saison grämen: „Es ist normal, dass man ein Spiel verliert.“

Stattdessen machte sich so etwas wie eine Jetzt-erst-recht-Stimmung breit. Paqarada erwartet einen „Aufwach-Effekt“: „Das Derby kommt nie zur falschen Zeit. Was davor war, spielt keine Rolle. Da ist die Einstellung das Einzige, was zählt.“ Sein Kapitänskollege Jackson Irvine blickt auch entschlossen in die Zukunft: „Es sind noch viele Punkte zu holen. Mit dieser Mentalität gehen wir in die nächste Woche.“ Trainer Hürzeler bemüht sich sogar, Positives aus dem Braunschweig-Spiel mitzunehmen. „Ich habe meine Mannschaft wie in den letzten Wochen gesehen, mit dem ständigen Pushen und dem Füreinanderdasein“, analysierte er, „Mit Blick auf die Positionierung sah es nach Fußball aus. Mit dem Spiel an sich und angesichts der Leistung war es ein Schritt nach vorne. Darauf werden wir aufbauen.“

Die Stimmung in der Führung

HSV: In der Führungsriege des HSV herrscht aktuell Ruhe. Die Verantwortlichen haben sich darauf verständigt, den Fokus komplett auf den Sport zu legen. Doch es wirkt wie eine Art Scheinfrieden. Präsident und Aufsichtsrat Marcell Jansen hatte zuletzt mit seinem Interview in der „Bild“, in dem er interne Vorgänge auf der Hauptversammlung kommentierte, den Unmut in den Gremien auf sich gezogen. Seine Kollegen hatten ihm von dem Interview abgeraten. Zuletzt war Jansen innerhalb der Vereinsführung isoliert, sitzt bei den Heimspielen meist alleine mit seiner Freundin auf den Rängen der Logen. Sollte der HSV in den nächsten Wochen weitere Spiele verlieren, rechnen einige Verantwortliche damit, dass Jansen diese Stimmung dann für sich nutzen könnte.

St. Pauli: Es herrscht Ruhe. Fabian Hürzeler musste zwar seine erste Niederlage als Cheftrainer des FC St. Pauli hinnehmen, das hat die Stimmung im Verein aber natürlich nicht beeinflusst. Seinen eigentlichen Auftrag hat Hürzeler schließlich bereits (über)erfüllt: den Klassenerhalt.

Die kritischen Stimmen in der Fanszene nach der Beurlaubung von Vereins-Ikone Timo Schultz Anfang Dezember sind deshalb schnell verstummt. Fußball ist ein Ergebnissport, und die liefert der FC St. Pauli 2023. „Inhaltlich gab es für mich nie einen Zweifel, dass er ein außergewöhnlich guter Trainer ist“, sagte Sportchef Andreas Bornemann vor zwei Wochen. Entsprechend selbstbewusst stellte sich der gerade 30-jährige Trainer am Sonntag vor seine Mannschaft und übernahm die Verantwortung für die Niederlage.

Die Stimmung bei den Fans

HSV: Nach der Niederlage in Kaiserslautern am Sonnabend war der Frust groß. Viele User in den sozialen Netzwerken ließen Dampf ab, einige forderten den Rauswurf der sportlichen Verantwortlichen. Die typischen Reflexe eben, wenn nach Schuldigen gesucht wird. Bei den Anhängern kommen mal wieder die Enttäuschungen der vergangenen Jahre hoch. Der Hang zur Selbstaufgabe ist unter den HSV-Fans schnell zu entnehmen. Am Montag herrschte dann bereits wieder eine zaghafte Aufbruchsstimmung. Anhänger riefen dazu auf, die Spieler über ihre Instagram-Seiten mit positiven Nachrichten zu motivieren. Am Freitag planen die Ultras, sich um 15 Uhr am Bahnhof Stellingen zu treffen und sich auf das Derby einzustimmen. Eine Stunde vor dem Anpfiff sollen dann alle Fans auf ihren Plätzen sein. Mit einer großen Choreographie auf der Nordtribüne ist zu rechnen. Wie das geht, haben die Fans des FCK am Sonnabend eindrucksvoll gezeigt.

Die HSV-Fans fielen auf dem Betzenberg dagegen vor allem durch das Zündeln von Feuerwerkskörpern auf. Während der Partie wurden die Hamburger Anhänger gleich viermal vom Stadionsprecher ermahnt, das Abbrennen von Pyrotechnik zu unterlassen. Eine Leuchtrakete landete sogar auf dem Spielfeld. Auf den HSV wird erneut eine hohe Rechnung zukommen. Für viele HSV-Fans war es die Premiere auf dem Betzenberg, was die Motivation zur Markierung in Form von Pyrotechnik erhöht. Im eigenen Stadion ist das unter den Ultras eigentlich tabu.

St. Pauli: Manche Zuschauer haben ihren Schal falsch geknotet, andere sind mit der falschen U-Bahn gekommen oder haben kein Fischbrötchen vor dem Spiel verzehrt, wie sonst immer vor Siegen. Es gab in der Fanszene des FC St. Pauli viele Begründungen für die Pleite vom Sonntag. Irgendwelche Pöbeleien, die in den (un)sozialen Medien ja sonst schnell aufploppen, waren nicht zu finden. Auch das mantraartige „Bornemann und Göttlich müssen weg“ vom Dezember tauchte nicht wieder auf.

Stattdessen geht der Blick nach vorne. „Die Möglichkeit, nicht nur die Rauten in der Kurve, sondern auch die auf dem Rasen wie in den letzten Jahren zu demütigen, ist natürlich zusätzlich eine witzige Sache“ heißt es voller Vorfreude bei „Ultra St. Pauli“. An einer großen Choreo wird bereits gebastelt, und Spenden für die Kosten dafür werden gesammelt. Es dürfte (eventuell feuriges) Spektakel geben, in der Südwest-Ecke des Volksparkstadions, wo die St. Pauli-Fans stehen. Die wollen sich am Freitag bereits um 15 Uhr am Jungfernstieg treffen und anschließend mit der S-Bahn „an den Stadtrand“ fahren. Die Polizei wird sich das genau anschauen.