Hamburg. Der HSV hadert mit der Heimschwäche, St. Pauli sucht den Ausweg aus der Auswärtskrise. Ein Erklärungsversuch.

Es ist ja nicht so, dass die Spieler des FC St. Pauli am Sonnabend in Düsseldorf zum Topfschlagen aufschlagen. Spielen mit den Gastgebern gerne – aber anders als bei einem Kindergeburtstag gibt es es auch am Rhein keine Geschenke für die Besucher des Kiezclubs. Im Zweitligaspiel bei der Fortuna (13 Uhr/Sky) müssen die Hamburger ihre Punkte selbst erarbeiten. Und das ist etwas, das ihnen in der Fremde seit Jahren außergewöhnlich schlecht gelingt – und in dieser Saison besonders schlecht. In der Auswärtstabelle liegt das Team von Trainer Timo Schultz auf einem Abstiegsplatz. Keine Mannschaft holte auswärts weniger Punkte als St. Pauli (2).

Ganz anders der HSV. Der Stadtrivale hat in fremden Städten besonders viel Spaß. Die junge Reisegruppe aus dem Volkspark holte am Sonntag mit dem 3:2 in Paderborn bereits den sechsten Sieg im siebten Auswärtsspiel. Kinder, Kinder. Saisonübergreifend sind es sogar zehn Siege in Serie außerhalb Hamburgs. Lediglich die Niederlage im Stadtderby beim FC St. Pauli stört in der Statistik.

Dagegen rätselt der HSV, warum es in den Heimspielen nicht so läuft. In sieben Spielen gab es erst drei Siege. Dabei kommen auch am Sonntag (13.30 Uhr/Sky) wieder mehr als 45.000 Zuschauer zum Spiel gegen Jahn Regensburg in den Volkspark. Warum tut sich der HSV bislang so schwer, vor den eigenen Fans so viel Spaß zu haben wie der Gastgeber eines Kindergeburtstags?

Warum sich der HSV zu Hause schwertut

Einen Erklärungsansatz liefert Daniel Memmert von der Deutschen Sport-Hochschule Köln. Der Professor für Sportwissenschaft hat gemeinsam mit seinen Kölner Kollegen Fabian Wunderlich und Robert Rein sowie Matthias Weigelt von der Universität Paderborn in einer Langzeitstudie untersucht, welche Faktoren Spielergebnisse auswärts und im eigenen Stadion beeinflussen.

Die überraschende Erkenntnis: „Für die Heimstärke sind nicht die Fans verantwortlich“, sagt Memmert. Die Studienleiter haben mehr als 40.000 Partien aus zehn Spielzeiten in den sechs europäischen Topligen analysiert. Um den Einfluss der Fans herauszuarbeiten, verglichen sie die Ergebnisse mit denen von 1000 Geisterspielen während der Corona-Pandemie. Das Ergebnis ist nahezu identisch. Mit Fans gewinnt die Heimmannschaft 45 Prozent der Spiele, ohne Fans immer noch 43 Prozent.

Dass Auswärtsmannschaften mit oder ohne Zuschauer laut der Studie nur jeweils rund 30 Prozent der Spiele gewinnen, habe einen anderen Grund. „Das Auftreten in Auswärtsspielen kann man mit Kindern vergleichen, die bei Freunden zum Spielen eingeladen sind“, sagt Memmert. „Die sind in der Regel zurückhaltender, wenn sie sich in einer fremden Wohnung aufhalten. Sie wirken zögerlicher und unsicherer als zu Hause. Das ist ein normaler menschlicher Charakterzug.“

Eine Erklärung für St. Paulis Auswärtsschwäche

Nun wird St. Paulis Trainer Timo Schultz einen Vergleich seines Teams mit einer Kindergartentruppe sicherlich ablehnen, die Ergebnisse seines Clubs sprechen aber durchaus für Memmerts These: Elf Punkte mehr holte St. Pauli in dieser Saison in den Heimspielen als auf fremdem Platz. Bei keiner Mannschaft in der Zweiten Liga ist die Diskrepanz größer. „Man erkennt, dass die Körpersprache von Spielern auswärts oft schlechter ist“, sagt Memmert, „das mag auch mit negativen Erfahrungen zu tun haben.“ Kopfkino halt.

Der FC St. Pauli hat nun schon seit dem 12. Februar keinen Dreier mehr in der Fremde geholt. Das sind saisonübergreifend zwölf Ligaspiele ohne Sieg. „Es wird Zeit, dass wir das ändern“, sagte Schultz am Donnerstag.

Warum St. Pauli am Millerntor gegen die Topteams Darmstadt, HSV und Paderborn sieben Punkte holte, auswärts aber noch gar nicht gewinnen konnte, ist für Schultz schwer erklärbar – für Memmert dagegen schon. Ausschlaggebend für die Heimstärke beziehungsweise Auswärtsschwäche sei das ganz allgemeine Gefühl, dass man sich in der gewohnten heimischen Umgebung in jeder Lebenslage wohler fühlt. „Das ist die eigene Kabine, der Ordner, der einen seit Jahren abklatscht, der vertraute Rasen, die eigenen Spinde, die Routinen“, meint Memmert. Er spricht von einem „Territorialverhalten“, das auf dem Kiez offenbar besonders ausgeprägt zu sein scheint.

HSV schießt zu wenig Tore im Volkspark

Der HSV hebelt die Kölner Studienergebnisse in dieser Saison allerdings aus. Die Siegesquote von 43 Prozent im Volksparkstadion entspricht zwar durchaus der ermittelten Statistik, auswärts geht die Mannschaft von Trainer Tim Walter dagegen zu 86 Prozent als Gewinner vom Platz. Warum das so ist?

„Das ist eine Frage, der wir auch noch auf den Grund gehen“, sagt Kapitän Sebastian Schonlau, der nach seiner Rotsperre am Sonntag gegen Regensburg wieder spielen wird. Ohne den Abwehrchef gab es im Volkspark zuletzt eine schmerzhafte 2:3-Niederlage gegen Aufsteiger Magdeburg.

Aber auch mit Schonlau ließ der HSV zuvor gegen Hansa Rostock (0:1), Darmstadt (1:2) und Kaiserslautern (1:1) Punkte liegen. Auffällig: In sieben Heimspielen schoss der HSV erst acht Tore, spielte dafür zu oft Blinde Kuh. Nur drei Mannschaften in der Zweiten Liga sind zu Hause harmloser. „Wir stellen uns das schon anders vor, gerade vor unseren Fans. Das Stadion ist immer richtig gut besucht. Wir haben Sonntag die Chance, das wieder zu verändern“, sagt Schonlau.

HSV hat taktisch zu Hause mehr zu tun

Eine mögliche Erklärung für die Heimschwäche ist die Spielweise der Gegner. Im Volkspark stehen die anderen Vereine noch tiefer als in Heimspielen gegen den HSV. Walters Elf muss regelmäßig ein dichtes Abwehrbollwerk knacken. Die Spielidee des Trainers ermöglicht den Gegnern dabei regelmäßig gute Konterchancen.

„Grundsätzlich stehen viele Gegner gegen uns recht tief, hier zu Hause vielleicht noch etwas mehr. Für uns kann das aber kein Grund sein, warum wir uns ergebnistechnisch hier schwerer tun“, sagt Schonlau. Der 28-Jährige sieht auch in den Heimspielen den Schlüssel in den Basics. „Wir dürfen nicht träumen und denken, dass jetzt wieder alles gut ist und wir uns auf dem Sieg ausruhen können.“

Klar ist, dass der Aufstieg für den HSV über die Heimspiele führt. In den vergangenen elf Jahren ist die heimstärkste Mannschaft der Liga immer auch direkt aufgestiegen. Zuletzt verpasste Fortuna Düsseldorf 2010/11 als beste Heimmannschaft der Liga den Aufstieg. Dem HSV dagegen wurden in den vergangenen vier Jahren immer wieder auch die Partien im Volkspark gegen vermeintlich kleinere Clubs zum Verhängnis – trotz der zuverlässigen Unterstützung der Fans.

HSV: Fans beeinflussen Schiedsrichter

Der lautstarke Support des eigenen Teams bringt nach Ansicht der Wissenschaftler allerdings nur einen, wenn auch manchmal entscheidenden Vorteil: Er beeinflusst die Schiedsrichter. „Wir konnten zeigen, dass an Auswärtsteams mehr Gelbe Karten verteilt werden und mehr Elfmeter gegen sie entschieden werden“, sagt Sportwissenschaftler Memmert dem Abendblatt.

Darunter hat der FC St. Pauli sicherlich beim Handelfmeter in Hannover (2:2) und einem Foulelfmeter in Regensburg (0:2) gelitten. Diese zwei vom Videoschiedsrichter überprüften Szenen können als Erklärung für die schwachen Resultate fern des Millerntors aber nicht reichen. „Wir müssen dafür sorgen, dass uns kleine Rückschläge nicht aus der Bahn werfen“, sagt Schultz.

Für St. Paulis Trainer geht es insbesondere in den zwei Auswärtsspielen vor der langen Winterpause darum, sich von den Abstiegsrängen abzusetzen. „Du musst mental stark sein. Da versuchen wir als erfahrene Spieler voranzugehen“, sagte Co-Kapitän Jackson Irvine vor der Abfahrt nach Düsseldorf. „Wir haben noch zwei Auswärtsspiele, es ist der ideale Zeitpunkt, etwas zu ändern“, so Irvine.

Das gilt auch für den HSV. In den zwei Heimspielen gegen Regensburg und Sandhausen will der Club nun zeigen, dass Spielen auch Volkspark Spaß macht.