Hamburg. Kinsombi verlässt den HSV. Auch Kittel will gehen. Wie kann der 29-Jährige ersetzt werden? Eine Spur führt zu einem neuen System.

Fast auf den Tag genau drei Jahre ist es her, dass Sonny Kittel beim HSV seinen Medizincheck absolvierte. Im Athleticum des UKE traf der Neuzugang auch auf David Kinsombi, den er herzlich umarmte. Die beiden Hessener Jungs kannten sich bereits aus ihrer gemeinsamen Zeit bei Eintracht Frankfurt. Beim HSV starteten Kittel und Kinsombi als Hoffnungsträger in die Saison 2019/20. Kinsombi hatten die Hamburger für 3,5 Millionen Euro von Holstein Kiel gekauft, Kittel konnte der HSV ablösefrei vom FC Ingolstadt verpflichten.

Die Szene aus dem UKE konnten HSV-Fans am Montagmittag noch einmal in einem Video sehen. Es war zugleich das Abschiedsvideo für Kinsombi. Der 26-Jährige verlässt die Hamburger nach drei Jahren und wechselt zum Ligakonkurrenten SV Sandhausen. Dort wird der Mittelfeldspieler künftig mit seinem jüngeren Bruder Christian (22) zusammenspielen.

HSV: 250.000 Euro Abfindung für Kinsombi

Laut „Bild“ zahlt der HSV Kinsombi für die vorzeitige Auflösung seines bis 2023 laufenden Vertrags eine Abfindung von 250.000 Euro. Nach Manuel Wintzheimer, Jan Gyamerah (beide 1. FC Nürnberg), Faride Alidou (Eintracht Frankfurt) sowie Giorgi Chakvetadze (Rückkehr nach Leihe zu KAA Gent) ist Kinsombi bereits der fünfte feststehende Abgang beim HSV. Eine Ablöse konnte der Club für keinen dieser Spieler erzielen.

Das könnte sich noch in dieser Woche ändern. Denn nach Kinsombi dürfte die Medienabteilung des HSV im Hintergrund bereits auch am Abschiedsvideo für Kittel arbeiten. Der 29-Jährige hat seinen Wechselwunsch bei den Verantwortlichen hinterlegt. Nach drei missglückten Aufstiegsversuchen strebt auch der Fanliebling eine Luftveränderung an. Anders als bei Kinsombi und Co. wird der HSV den Offensivspieler aber nur gegen die Zahlung einer Ablösesumme abgeben. Nun liegt es vor allem an Kittels Berater Alen Augustincic, den Transfer vorzubereiten. Der HSV strebt eine Lösung bis zum Trainingsstart am 18. Juni an. Sollte es dazu noch nicht kommen, wird Kittel wieder im Volkspark auf dem Trainingsplatz stehen.

Kittel enttäuscht von Führungsriege

Der bevorstehende Abschied des Topscorers der vergangenen drei Jahre (63 Scorerpunkte in 104 Spielen) hatte in den sozialen Netzwerken für kontroverse Reaktionen gesorgt. Ist Kittel nun der „Unterschiedsspieler“ (Sportvorstand Jonas Boldt), der angesichts seiner Quote kaum zu ersetzen sei? Oder wäre Kittels Abgang kompensierbar, weil er eben „kein Stefan Effenberg ist“ (Sportvorstand Jonas Boldt), der als Führungsspieler in entscheidenden Momenten vorangeht?

Ein wenig Wahrheit steckt sicherlich in beiden Sichtweisen. Die HSV-Verantwortlichen tendierten in den vergangenen Wochen aber offenbar immer stärker zur zweiten Perspektive. Das hat auch Kittel mitbekommen, der dem Vernehmen nach über das fehlende Vertrauen der sportlichen Führung im Volkspark enttäuscht ist. Dabei hatte insbesondere Trainer Tim Walter dem Techniker in der vergangenen Saison unentwegt den Rücken gestärkt.

Kittel häufig kritisiert beim HSV

Doch auch Walters Versuch, aus Kittel einen Leader zu formen, der das Vertrauen mit Toren und Vorlagen zurückzahlt, funktionierte nur zwei Drittel der Saison. Als es in die „Crunch­time“ (Sportvorstand Jonas Boldt) ging, versteckte sich Kittel auf dem Platz. Und selbst Walter setzte seinen Lieblingsspieler mehrfach auf die Bank oder wechselte ihn frühzeitig aus. Kittel gefiel das nicht, und das ließ er auch jeden spüren.

Es ist auch diese Attitüde, die dafür sorgt, dass der „Unersetzbare“ (Abendblatt, Januar 2022) mit dem großen Potenzial häufig härter kritisiert wird, wenn er sein Potenzial wieder nicht abruft. Kittel wiederum fühlte sich oft zu unrecht kritisiert. Mit den Medien sprach er nach seinem ersten Jahr gar nicht mehr. Während sich seine jüngeren Kollegen regelmäßig auch nach Niederlagen kritischen Fragen stellten, tauchte Kittel ab. Ähnlich wie in den entscheidenden Momenten auf dem Platz.

Etwas anders war das bei Kinsombi. Der frühere U-18-Nationalspieler wurde vom ehemaligen Sportvorstand Ralf Becker als Führungsspieler geholt. Ausfüllen konnte Kinsombi diese Rolle nie, weil er es bei keinem HSV-Trainer zum unverzichtbaren Stammspieler schaffte. Auf gute Spiele folgten regelmäßig Phasen, in denen der Wiesbadener kaum zu sehen war. Trotz einer passa­blen Bilanz (elf Tore, elf Vorlagen) endet das Kapitel Kinsombi beim HSV als sportliches und finanzielles Missverständnis.

Wie schon vor einem Jahr im Falle der Vertragsauflösungen von Khaled Narey, Klaus Gjasula, Gideon Jung und Toni Leistner hatte auch Kinsombi sofort einen neuen Verein, nachdem das Arbeitspapier beim HSV gegen die Zahlung einer Abfindung aufgelöst wurde. Auf ihr gutes HSV-Gehalt wollte letztlich keiner dieser Profis verzichten. Ein deutliches Indiz dafür, dass Spieler im Volkspark noch immer überdurchschnittlich viel Geld verdienen können und einer der Gründe, warum der Club finanziell in Schieflage geraten ist.

Fünfte HSV-Abfindung in einem Jahr

Wie aber will der HSV insbesondere den möglichen Verlust von Kittel kompensieren? Nach Abendblatt-Informationen plant der Club in der kommenden Saison eine Umstellung auf ein 4-4-2-System mit zwei Stürmern. Der eine heißt Robert Glatzel, der andere soll Ransford Königsdörffer heißen. Mit dem variablen Stürmer von Dynamo Dresden ist sich der HSV weitestgehend einig. Ob der 20-Jährige schon zum Trainingsstart dabei sein wird, ist noch offen.

Schon in der vergangenen Saison hatte Trainer Walter im 4-4-2 spielen lassen, als Kittel auf der Bank saß. In diesen Partien durfte Mikkel Kaufmann an der Seite von Glatzel stürmen. Ob der Däne noch einmal vom FC Kopenhagen ausgeliehen wird, ist noch nicht entschieden. Denn nun ist Königsdörffer für diese Position eingeplant. Grundsätzlich will sich der HSV unabhängiger machen von einem Spieler wie Kittel, der an vielen Tagen tatsächlich den Unterschied ausmachte. Der aber eben auch „immer sehr gut funktioniert hat, wenn die Mannschaft funktioniert hat“ (Sportvorstand Jonas Boldt).

In der kommenden Saison muss die Mannschaft auch ohne Kittel funktionieren, wenn das bereits ausgegebene Ziel des Aufstiegs gelingen soll. Ansonsten drohen die nächsten Enttäuschten den Volkspark zu verlassen.