Hamburg. Vor 40 Jahren endet im Volksparkstadion die aktive Fußballkarriere des Ex-HSV-Spielers – ein Eigentor inklusive.
Es ist Lars Bastrup, der die letzte Chance erkennt, diesem Spiel noch einen würdigen Abschluss zu geben. Der dänische HSV-Linksaußen passt den Ball aus dem Strafraum über drei Meter halbhoch zurück auf den davor postierten Franz Beckenbauer. Der „Kaiser“ lupft die Lederkugel mit linkem Fuß kurz an, um sie dann, – Gegenspieler Uli Stielike dreht sich geistesgegenwärtig weg, um die Flugbahn freizumachen –, mittels einer ruckartigen Ausholbewegung mit dem rechten Fuß aus 18 Metern mit der ihm eigenen Eleganz in hohem Bogen Richtung Tor zu schlenzen.
Toni Schumacher, der deutsche Nationalhüter, scheint kurz zu überlegen, ob er den Einschlag verhindern soll, deutet einen Schritt nach rechts an, entscheidet sich aber, keine weiteren Rettungsmaßnahmen zu unternehmen. Der Ball landet im Netz. Das Publikum feiert den Schützen, Rudi Michel dagegen, der das Spiel für die ARD kommentiert, nörgelt wenig euphorisch: „Natürlich. Das gehört zur Show. Das war zu erwarten.“
Fußball-Legende: Franz Beckenbauer und sein letztes (Eigen-)Tor
2:4 verliert der HSV am 1. Juni 1982 im Hamburger Volksparkstadion im Abschiedsspiel für Franz Beckenbauer gegen die Nationalelf, die am nächsten Tag im baden-württembergischen Schluchsee in die Vorbereitung für die WM in Spanien startet (und dort Vizeweltmeister wird). Beckenbauer trifft auf beiden Seiten, zum Endstand, zuvor zum 0:3 ins eigene Tor, als er den Ball aus 15 Metern bei einer missglückten Abwehraktion an HSV-Torhüter Uli Stein mit rechts links unten ins Eck bugsiert. Auf der Anzeigetafel erscheint der Treffer nicht. „Wenn schon der Mann, der die Elektronik im Stadion bedient, aus Mitleid deinen Fehler vertuschen will, dann musst du gehen“, schreibt Beckenbauer in seiner 1992 erschienenen Biografie „Ich. Wie es wirklich war“.
In Hamburg endet vor über 40 Jahren die aktive Karriere des damals besten deutschen Fußballspielers. Beckenbauer, Europameister 1972 und Weltmeister 1974, viermal deutscher Meister mit dem FC Bayern München, einmal mit dem HSV, wird nach Fritz Walter (1. FC Kaiserslautern/Weltmeister 1954) und HSV-Legende Uwe Seeler (72 Länderspiele/43 Tore) zum dritten Ehrenspielführer der Nationalmannschaft ernannt. Seine Vorgänger sind an diesem Dienstagabend zum Gratulieren gekommen, auch 30.000 Zuschauerinnen und Zuschauer – mäßig viel. Beckenbauer stört das nicht: „Das Spiel wurde im Fernsehen übertragen, so haben es doch viele Leute sehen können.“ Nun ist der "Kaiser" im Alter von 78 Jahren verstorben.
Beckenbauers Wechsel zum HSV
„Beckenbauer, der ist schlau, holt sich die Rente ab vom HSV“, reimt der 14 Jahre alte Thomas Lembke in einem Schüler-Wettbewerb des Abendblatts, als der damals 35-Jährige am 31. Oktober 1980 auf dem Flughafen Fuhlsbüttel Hamburger Boden betritt. Den Vertrag mit dem HSV hat er bereits am 23. Mai unterschrieben, Cosmos New York gibt ihn fünf Monate später nach Saisonende frei. Beckenbauer kostet keine Ablöse und den Verein nur ein monatliches Salär von 5000 Mark. Den Rest des Jahresgehalts, insgesamt 1,2 Millionen Mark (613.000 Euro), übernehmen HSV-Haupt- und Trikotsponsor BP (British Petroleum) sowie Ausrüster Adidas. Schon beim Engländer Kevin Keegan, der von 1977 bis 1980 für den HSV stürmt, greift ein ähnliches Modell.
Beckenbauers Engagement ist kein Werbegag. Trainer Branko Zebec sieht in dem Libero den letzten sportlichen Mosaikstein, um nach 1979 den zweiten HSV-Meistertitel in der Fußball-Bundesliga zu gewinnen. Manager Günter Netzer bleibt anfangs skeptisch, doch Zebec überzeugt ihn, aktiv zu werden. Beckenbauer, der sich 1977 wohl auch aus privaten Gründen aus München in die „Operettenliga“ North American Soccer League nach New York verabschiedet, hält die Hamburger Offerte zunächst für einen Scherz. Netzers Hartnäckigkeit gibt er schließlich nach, auch weil er wieder Lust verspürt, „noch mal auf wirklich hohem Niveau Fußball zu spielen“.
Fußball-Legende bleibt torlos
28-mal läuft Beckenbauer für den HSV in der Bundesliga auf, 18-mal 1980/81, noch zehnmal in der Meistersaison 1981/82. Ein Tor schießt er nicht, auch kein Eigentor. Er ist immer häufiger verletzt, die lange Profikarriere und der nordamerikanische Kunstrasen haben Knochen und Muskulatur zugesetzt.
Dann gesellt sich noch Pech hinzu. Als er am 31. März 1982 gegen den VfB Stuttgart (1:1) in der 23. Minute nach einem Eckball von Manfred Kaltz im Revier von HSV-Kapitän Horst Hrubesch wildert, zum Kopfball hochsteigt, kommt ebendieser angerannt, rammt ihn mit angezogenen Knien ungewollt weg – und drückt den Ball mit der Stirn zum 1:0 ins Tor.
Beckenbauer: Stammgast beim Mannschaftsarzt
Bei dem Zusammenprall erleidet Beckenbauer, wie sich nach Abpfiff herausstellt, einen Nierenriss. Er fällt bis zum Saisonende aus. „Deinetwegen musste ich damals meine Karriere beenden“, flachst Beckenbauer später Hrubesch des Öfteren an. Der antwortet dann: „Du hattest da vorne auch nichts zu suchen!“ Zum Saisonabschluss gegen den Karlsruher SC (3:3) darf Beckenbauer am 29. Mai 1982 sein letztes HSV-Spiel bestreiten. Trainer Ernst Happel wechselt ihn in der 41. Minute aus – und zur Meisterfeier wieder ein.
In seiner Hamburger Zeit wird Beckenbauer schnell zum Stammgast beim neuen HSV-Mannschaftsarzt Friedrich Nottbohm, einem Mediziner, der alternative Heilmethoden präferiert. Nottbohm ist leitender Arzt der Paracelsus-Klinik in Henstedt-Ulzburg.
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Die beiden Männer freunden sich an. Als Beckenbauer 1982 den erwarteten Erlös seines Abschiedsspiels, es sollen rund 800.000 Mark (409.000 Euro) werden, Unicef, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, spenden will, rät Nottbohm ihm, eine eigene Stiftung zu gründen. „Ich habe damals zu ihm gesagt: ,Franz, deine aktive Zeit geht jetzt zu Ende, aber deine zweite Karriere, da bin ich mir sicher, wird noch viel, viel größer. Und so ist es ja am Ende auch gekommen‘“, erzählt Nottbohm im Dezember 2013 dem heutigen Abendblatt-Sportchef Alexander Laux.
Beckenbauer hört auf ihn, sagt später, „das war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Es war mir ein Bedürfnis, etwas Nachhaltiges zu schaffen“. Er gründet noch vor seinem Abschiedsspiel am 15. Mai 1982 in Hamburg die Franz-Beckenbauer-Stiftung, packt dann auf die 800.000 Mark noch 200.000 drauf, „damit es eine runde Summe ist“. Die Stiftung schüttet dank Spenden und Erträgen aus dem Stiftungskapital heute jährlich rund eine Million Euro aus, hilft Menschen mit Behinderung und Personen, die krank oder unverschuldet in Not geraten sind. Nottbohm, der die letzten zehn Jahre mit einem Kunstherz lebt, gehört bis zu seinem Tod 2017 auf Wunsch Beckenbauers zum Stiftungsrat.
Fußball-Legende: Treuer HSV- und Hamburg-Fan
Auch wenn die Zeit des Münchners in Hamburg sportlich die gegenseitigen hohen Erwartungen nicht erfüllt, Beckenbauer dachte bis zuletzt gern an diese anderthalb Jahre zurück, nicht nur weil er in Hoisdorf sein später geliebtes Golfspielen lernt. Zur Fußball-WM 2006 in Deutschland versteigt er sich zu der Bemerkung, Hamburg sei die schönste Stadt Deutschlands, was ihm in München mächtig Ärger einbringt.
Und wenn der HSV nicht gerade gegen die Bayern spielte, was dieser seit längerer Zeit nicht mehr tut, drückte der Kaiser seinem Ex-Club weiter die Daumen – ganz nach dem Titel seiner Single aus dem Jahr 1966: „Gute Freunde kann niemand trennen.“