Hamburg. Als Spieler war Tim Walter in der Nähe von Sandhausen aktiv – und zeigte Parallelen zu seiner Philosophie als Trainer.

Gerd Dais sitzt zu Hause auf seiner Couch in der beschaulichen 11.244 Einwohner zählenden Rhein-Neckar-Gemeinde Nußloch, als er einen ungewöhnlichen Anruf vom Abendblatt erhält. Doch der 58-Jährige muss nicht lange überlegen, um zu erahnen, worum es geht. „Wir können gerne ein bisschen über Tim Walter schwätzen“, sagt der frühere Sandhausen-Trainer Dais in bestem Kurpfälzisch und legt auch direkt los: „Sein Spiel ist sehr risikobehaftet.“

Es ist eine Aussage, die in Zusammenhang mit HSV-Trainer Walter wenig überraschen dürfte. Überraschend ist allerdings, dass Dais damit gar nicht die Spielidee des 46-Jährigen meint, sondern die Art und Weise, wie sich Walter früher als Spieler auf dem Rasen verhielt. Genauer gesagt: auf dem Rasen der SG Dielheim.

Wie HSV-Coach Tim Walter als Spieler war

Beim damaligen Fünftligisten und heutigen Kreisklasse-Team blitzte in der Saison 1997/98 das Talent eines 21 Jahre alten offensiven Mittelfeldspielers auf: das Talent von Tim Walter. Trainiert wurde die Mannschaft, deren Sportanlage gerade einmal 18 Kilometer vom Stadion des nächsten HSV-Gegners SV Sandhausen (Sonnabend, 13.30 Uhr/Sky und im Liveticker bei abendblatt.de) entfernt liegt, von Dais. „Wir haben gegen den Abstieg gespielt und wollten primär keine Gegentore kassieren“, erinnert sich der Heidelberger.

Doch mit dieser taktischen Herangehensweise konnte sich Walter, der ähnlich wie bei seinen Trainerstationen schon als Spieler viel den Ball haben und spielerische Lösungen finden wollte, nur bedingt anfreunden. „Er war ein Straßenfußballer, wollte dribbeln, tricksen und Tore schießen“, erzählt Dais, der sich auch noch daran erinnert, wie er hin und wieder mit Walter aneckte. „Er hätte am liebsten jeden Gegenspieler nacheinander ausgespielt. Man musste ihn häufiger daran erinnern, dass es sich um einen Mannschaftssport handelt.“

Tim Walter zeigt im HSV-Training immer wieder abseits der Mannschaft seine fußballerischen Qualitäten. Schon als Spieler war er dribbelfreudig.
Tim Walter zeigt im HSV-Training immer wieder abseits der Mannschaft seine fußballerischen Qualitäten. Schon als Spieler war er dribbelfreudig. © Witters

Diese Erinnerung fand situativ sowohl vor der Mannschaft während eines Spiels als auch in Einzelgesprächen nach den Trainingseinheiten statt. Dais wusste in diesen Momenten, welchen Wert Walter für die Mannschaft hatte, dass er der Schlüssel für den Klassenerhalt sein kann – wenn er sich doch nur in die taktische Grundordnung einfügen würde. „Wir waren froh, ihn in der Mannschaft zu haben“, sagt Dais deshalb gleich mehrmals im Gespräch mit dem Abendblatt. Seine Worte will er nicht als Kritik verstanden wissen, sondern vielmehr als Beschreibung des Fußballers Tim Walter, der „ein lockerer und umgänglicher Typ“ gewesen sei.

Parallelen zwischen Spieler und Trainer Tim Walter

Von seiner Lockerheit hat der heutige HSV-Coach auch 24 Jahre später kaum etwas eingebüßt. Und so verrät diese Geschichte über seine Vergangenheit wohl auch einiges über seine Art, als Trainer Fußball spielen zu lassen. Der sogenannte Walter-Ball ist ebenso risikoreich, wie er früher selber als Spieler agierte. Besonders im Spielaufbau scheut der Coach kein Wagnis mit dem Ziel, sich durch die erste Pressingreihe des Gegners zu kombinieren, um weiter vorne eine Überzahlsituation zu kreieren. Zugleich fordert Walter von seinen Spielern immer wieder Mut ein. Mut, von dem er einst als trickreicher Offensivspieler nicht zu wenig hatte.

Die Beschreibung seiner fußballerischen Qualitäten könnte zugleich als Erklärung dienen, warum es Walter geschafft hat, vermeintliche Sorgenkinder wie Sonny Kittel oder Faride Alidou zu Höchstleistungen zu animieren. Denn Walter war selbst nicht der geradlinigste Spieler – und zeigt nun Verständnis für Profis, die nicht immer einfach zu führen sind, aber das gewisse Etwas mitbringen, um den Unterschied auszumachen.

Rutscht Walters HSV in Sandhausen aus?

So wie Walter in der Saison 97/98. Dennoch trennten sich die Wege nach dem geglückten Klassenerhalt. Auch nachdem Walter die SG Dielheim verlassen hatte, schaffte Dais noch zweimal den Klassenerhalt mit dem kleinen Verein aus der Kurpfalz, ehe er zunächst als Co-Trainer beim SV Sandhausen anheuerte. Als späterer Chefcoach gelang Dais, der zwischenzeitlich ein Jahr beurlaubt worden war, der Sprung von der damals viertklassigen Oberliga bis in die Zweite Liga, ehe er im November 2012 nach sechs Niederlagen in Folge erneut entlassen wurde.

Seine Verbindung zum Club aus der Kurpfalz ist dennoch geblieben. Noch immer fiebert Dais mit der Mannschaft um Ex-HSV-Profi Dennis Diekmeier mit – und hält am Sonnabend eine Überraschung für möglich. „Natürlich ist der HSV der Favorit, aber ich traue Sandhausen einen Punkt zu“, sagt er und stützt seine These vor allem auf den riskanten Spielaufbau der Walter-Elf. „Defensiv kann Hamburg immer ein Fehler unterlaufen – und dann kann Sandhausen vielleicht zuschlagen.“

7500 Zuschauer sind für die Partie zugelassen. Einer von ihnen wird Dais sein, der aus Nußloch nur vier Kilometer anreisen muss. Mit Spannung wird er verfolgen, wie sich Walter, mit dem er allerdings keinen Kontakt mehr hat, in seiner Heimat schlägt. Doch schon jetzt ist ihm klar: Die Spielweise des HSV wird ihn an den Spieler Walter erinnern.