Hamburg. 16 Monate nach der Entgleisung auf der Tribüne spricht der damalige HSV-Profi offen wie nie über den Vorfall und dessen Auswirkungen.

Es war noch dunkel am frühen Montagmorgen, als Toni Leistner mit einem Kleintransporter von Hamburg nach Sint-Truiden fuhr. 550 Kilometer über die A 1 in die kleine Stadt im Westen von Belgien. Dort lebt der 31-Jährige seit seinem kurzfristigen Wechsel Anfang September vom HSV zu Bernd Hollerbach, der den belgischen Erstligisten trainiert.

Sein Umzug wird aber erst am 1. Februar abgeschlossen sein. „Wir hatten etwas Stress mit dem Vermieter“, sagte Leistner am Montag, als er nach seiner Ankunft in seiner neuen Wohnung sitzt und sich via Zoom in den Abendblatt-Podcast „HSV – wir müssen reden“ zuschaltet.

„Alles raus ist noch nicht. Es waren fast nur Spielsachen für die Kinder im Transporter“, sagte Leistner, dessen Frau Josefin und ihre zwei kleinen Töchter noch in Hamburg leben. Dort hat Leistner auch Silvester verbracht. Weil er sich aber einen Magen-Darm-Infekt einfing, verpasste er den Vorbereitungsbeginn. Am Sonnabend (20.45 Uhr) startet sein Club mit einem Auswärtsspiel beim belgischen Meister Club Brügge in die zweite Saisonhälfte.

HSV in Dresden: Leistner wird es „genießen“

Eigentlich würde Leistner am Freitag auch gerne nach Dresden fahren. In seiner Heimstadt, in der er bereits ein Grundstück gekauft hat, um dort nach seiner Karriere mit seiner Familie zu leben, kommt es am Freitagabend (18.30 Uhr/im Liveticker auf abendblatt.de) zum Spiel seiner Ex-Clubs zwischen Dynamo Dresden und dem HSV.

Doch aufgrund seiner Partie am Sonnabend kann er die Begegnung nur zu Hause am Bildschirm verfolgen. „Das wäre sonst nicht die optimale Spielvorbereitung. Ich habe mir aber fest vorgenommen, das Spiel am iPad zu gucken, und das werde ich auch genießen.“

Leistners Fan-Eklat lieferte Schlagzeilen

Leistner ist in dieser Woche ein gefragter Mann. Mehrere Anfragen hat er bekommen. Schließlich ist es das erste Mal, dass der HSV wieder bei Dynamo Dresden spielt. Das erste Mal seit dem 1:4 in der ersten Runde des DFB-Pokals im September 2020, als es in Fußball-Deutschland in den Tagen danach fast nur ein Thema gab: Toni Leistner.

Das Erstrunden-Aus gegen den damaligen Drittligisten Dynamo Dresden hätte eigentlich schon gereicht, um die Schlagzeilen in Hamburg für ein paar Tage zu bestimmen. Doch Leistner setzte noch einen drauf. Zur Erinnerung: Leistner wollte gerade bei Sky die Leistung seines neuen Clubs in seinem ersten Pflichtspiel für den HSV erklären, als er an seiner alten Wirkungsstätte aus dem Dresdner Fanblock beleidigt wurde. Es war zugleich das erste Spiel nach Beginn der Corona-Pandemie, in dem mit Einhaltung der Maskenpflicht wieder Zuschauer auf der Tribüne zugelassen waren.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von Youtube, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

„Die Aufarbeitung hat eine Zeit lang gebraucht“

Leistner, der nach der schwachen Leistung ausgerechnet in seiner alten Heimat ohnehin emotional aufgeladen war, ließ sich von einem Dynamo-Fan provozieren. Er kletterte kurzerhand in den Fanblock, schnappte sich den stark alkoholisierten Anhänger am Kragen und drückte ihn zu Boden. „Was macht Toni da?“, fragte der damalige HSV-Trainer Daniel Thioune, der die Szene auf dem Weg zum Interview vom Mittelkreis aus beobachtete.     

„Es gab auch bei mir den Punkt, wo ich dachte, was machst du da? Aber ich wollte ihn ja nur zur Rede stellen. Viel reden war da leider nicht“, sagt Leistner 16 Monate später. Eine Stunde nimmt sich der Abwehrspieler am Montag Zeit, um mit dem Abendblatt über den Vorfall zu sprechen. „Die Aufarbeitung der Geschichte hat eine Zeit lang gebraucht. Einfach abhaken konnte ich das nicht. Heute ist es aufgearbeitet. Meine Familie ist gesund, das ist für mich das Wichtigste.“

HSV-Profi Leistner wollte die Familie schützen

Leistners Vater, Bruder Peter und Ehefrau Josefin saßen auf der Tribüne des Rudolf-Harbig-Stadions, als ihr Sohn, Bruder und Mann für den Eklat sorgte. Der Anhänger, der ihn und seine Familie beleidigt hatte, war gerade auf dem Weg in Richtung des Blocks, in dem die Leistners saßen. Für den Verteidiger gab es daher keinen Weg zurück. „Deswegen sind bei mir die Sicherungen durchgeknallt.“

Ohne Mund- und Nasenschutz stürzte sich Leistner ins Getümmel. Der Deutsche Fußball-Bund ermittelte und brummte dem HSV eine saftige Geldstrafe auf, die der Club an Leistner weiterleitete. „Die Strafe vom DFB musste ich natürlich zahlen. Wenn man Mist gebaut hat, muss man dafür gerade stehen und die Rechnung zahlen“, sagt Leistner.

Leistner hält Kontakt mit Namensvetter-Fan

Der Anhänger, der ihn beleidigt hatte, nahm hinterher über Dynamo Kontakt zu ihm auf und versuchte, sich zu erklären. „Bis auf die üblichen Entschuldigungen und die Ausrede, dass Alkohol dabei war, kam da nicht viel“, sagt Leistner. Richtig leid tut ihm dagegen heute noch, dass er während des Vorfalls gegen einen Dynamo-Fan prallte, der ihn eigentlich weghalten wollte.

In den vielen Handyvideos, die von dem Vorfall nur Sekunden später über die sozialen Medien liefen, sah man auch die schockierte Tochter des Vaters. Kurioserweise heißt die Familie ebenfalls Leistner. „Ich bin mit der Mama heute noch im Austausch. Wir schreiben uns ab und zu bei Instagram“, sagt er.

Der HSV lud die Familie zu einem Spiel nach Hamburg ein, Leistner besorgte ihnen Trikots und Accessoires. Sie machten auch ein Videotelefonat. „Das Mädchen hat den Schock vergessen. Sie war extrem stolz, dass wir den selben Namen haben und über Video gechattet haben.“ Leistner musste nach dem Vorfall viel Kritik einstecken, bekam aber auch Zuspruch. „Der Großteil der Leute, die den Grund erfahren haben, konnte mich verstehen.“

September 2020: Leistner knöpft sich auf der Tribüne einen Fan vor.
Bei Leistners Aktion wurde versehentlich ein weiterer Fan angegangen. © Imago/Jan Hübner | Unbekannt

Leistner scherzt über seinen Tribünensprung

Der HSV aber hatte aber schon vor dem ersten Ligaspiel einen Eklat. „Die Geschichte war kein Einstand nach Maß. Mit der Aktion habe ich mir keinen Gefallen getan, meinem Team nicht und meinem Geldbeutel auch nicht.“ Heute kann Leistner über den Vorfall schmunzeln.

Vor allem über seine Kletterkünste, die ihm auf die Tribüne verhalfen. „Ich bin stolz, dass ich überhaupt hochgekommen bin. Da hat sich meine Sportschule im Osten bezahlt gemacht. Großen Dank an meinen Sportlehrer. Er hat viel Wert auf Turnen und den Aufschwung gelegt“, sagt Leistner und lacht.

Leistner über HSV-Aus: „Es lag auch an mir“

Seine Zeit beim HSV begann mit einem Eklat und endete im Krach. Trainer Tim Walter wusste zu Saisonbeginn mit der Abwehr-Kante nicht viel anzufangen. Nach einer angeblichen Instagram-Nachricht an einen Fan, in der Leistner die HSV-Führung kritisiert haben soll, löste der Club seinen Vertrag auf. Leistner bestritt zwar, die Nachricht geschrieben zu haben, doch das Aus war nicht mehr zu verhindern. 

Auch interessant

„Ich war extrem stolz, das HSV-Trikot zu tragen und extrem traurig, wie es endete. Ich muss sagen, dass es auch an mir lag.“ Dem HSV wünscht Leistner nun den Aufstieg. Sein Tipp: Hinter St. Pauli wird der HSV Zweiter. Nur am Freitag hat er ein Problem. Dann schlagen zwei Herzen in seiner Brust. Aber Leistner kann es auch diplomatisch: „Ich wünsche beiden drei Punkte.“

Der Abendblatt-Podcast mit Toni Leistner:

podcast-image