Hamburg. Der HSV-Profi wird erneut durch einen „Bild“-Bericht durchgeschüttelt. Sein Anwalt erhebt Vorwürfe. Was kosten die Ermittlungen?
Wer am Freitagmorgen Bakery Jatta beim Abschlusstraining vor dem Spiel des HSV beim 1. FC Nürnberg (Sa./13 Uhr, Sky und im Liveticker bei abendblatt.de) beobachtete, der konnte fast meinen, dass alles im Leben Jattas gerade ganz normal ist. Der Fußballer trottete am frühen Morgen die Treppe in Richtung des Trainingsplatzes runter, grüßte freundlich und machte sich warm. Im Training sprintete Jatta, er schoss, er passte, er köpfte. Also alles in Butter?
Nichts ist in Butter. Am Dienstag wurde Jattas Leben, das schon so oft in seinen nur 22 Jahren an einem seidenen Faden hing, wieder einmal auf den Kopf gestellt. Gleichzeitig veröffentlichten „Bild“ und „Sport Bild“, also die beiden Medien, die seit anderthalb Jahren seine Identität in Zweifel stellen, Artikel über ein neues Gutachten der Universität Freiburg, in dem die Bewegungsabläufe von Bakery Jatta und Bakary Daffeh verglichen werden sollen. Die Uni soll der Frage nachgehen, ob es sich um ein und dieselbe Person handelt, wurde von den Ermittlern in Auftrag gegeben.
Der Auftrag verblüfft, weil bislang alle Versuche, Jattas Identität in Zweifel zu ziehen, ins Leere verlaufen waren. Auch die bei einer Hausdurchsuchung sichergestellten Datenträger wurden längst wieder zurückgegeben. Gefunden hat man nach Abendblatt-Informationen auf den Geräten: nichts. Deswegen werfen das neue Gutachten und die Form der Berichterstattung darüber eine ganze Reihe von Fragen auf, die man unter einer großen Frage bündeln könnte: Was soll das alles überhaupt?
Jatta: Linksfraktion stellt Kleine Anfrage
Mit dieser großen Frage muss sich nun auch die Hamburger Politik beschäftigen. So haben die Abgeordneten Deniz Celik und Cansu Özdemir von der Linksfraktion am späten Donnerstag eine schriftliche Kleine Anfrage in der Bürgerschaft eingereicht – mit 18 Einzelfragen. In der Einleitung schreiben Celik und Özdemir: „Der HSV-Spieler Bakery Jatta stand im Verdacht, dass er über seine Identität getäuscht habe und es sich eigentlich um Bakary Daffeh, einen zwei Jahre älteren gambischen Fußballspieler, handele.
Der Verdacht ist bereits von mehreren Institutionen überprüft und ausgeräumt worden. Insbesondere die „Bild“-Zeitung gießt jedoch immer wieder Öl ins Feuer und fährt eine regelrechte Kampagne gegen Jatta. Erneut ermittelt derzeit die Staatsanwaltschaft Hamburg gegen Jatta wegen der gleichen Vorwürfe.“
Und weiter: „Das hohe Verfolgungsinteresse der Staatsanwaltschaft Hamburg wirft Fragen nach der Ressourcenverwendung und den Motiven der Staatsanwaltschaft auf.“ Oder in anderen Worten: Wurden Steuermittel verschwendet, um der mittlerweile zum x-ten Mal gestellten Frage nachzugehen, ob Jatta wirklich Jatta ist?
Was kosten die Jatta-Ermittlungen?
So heißt es beispielsweise in Frage 16 der Anfrage, die dem Abendblatt vorliegt: „Lässt sich beziffern, wie hoch die Kosten sind, die mittlerweile für die Ermittlungen im Fall Jatta für die Stadt Hamburg entstanden sind?“ Klar sollte natürlich sein, dass ein Geflüchteter, der Fußballprofi wurde, nicht besser als jeder andere Geflüchtete behandelt werden darf. Aber eben auch nicht schlechter.
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Insofern ist auch direkt die erste Frage aus der Kleinen Anfrage hochinteressant: „Wie viele Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz aufgrund unrichtiger Angaben hinsichtlich der Identität wurden in den vergangen fünf Jahren geführt?“ Der Verdacht hinter der Frage: Der Verfolgungsdruck im Fall Jatta ergibt sich vor allem aufgrund der zahlreichen „Bild“- und „Sport Bild“-Artikel seit anderthalb Jahren.
Polizei: Ermittlungen wegen Jattas Verhalten
Das sieht man in Kreisen von Staatsanwaltschaft und Polizei natürlich anders. Dort gibt man auf Abendblatt-Nachfrage das Verhalten Jattas als Grund für die aufwendigen Ermittlungen an. So heißt es, dass Verfahren wegen falscher Angaben oft schnell mit einem Geständnis der Verdächtigen endeten – und deshalb auch ohne externe Analysen schnell abgeschlossen werden. Häufig geschehe dies sogar wegen „Geringfügigkeit“, weil das Vergehen strafrechtlich als nicht so schlimm angesehen wird, dass eine Anklage und ein Gerichtsprozess nötig sind.
Das bedeutet in der Praxis aber nicht, dass Falschangaben ohne Konsequenzen bleiben: Die Behörde erkennt den Betroffenen in diesen Fällen häufig den Aufenthaltstitel ab – im schlimmsten Fall droht ihnen danach eine Abschiebung. Meist werden sie jedoch danach zunächst noch vom Staat „geduldet“, oft ebenfalls über Jahre. Mit diesem Status dürfen sie wiederum aber in der Regel etwa keiner legalen Arbeit nachgehen.
Jatta-Ermittlungen: Was soll das bringen?
Jatta habe die Vorwürfe über seine Anwälte allerdings bislang immer kategorisch abgestritten – und in diesem Fall sieht sich vor allem die Staatsanwaltschaft an das sogenannte Legalitätsprinzip gebunden. Es besagt, dass die Ermittler rechtlich verpflichtet sind, allen erkennbaren Ermittlungsansätzen nachzugehen. Da von Jatta wie von Daffeh zahlreiche Aufnahmen existieren, sei es deshalb plausibel, diese von Experten vergleichen zu lassen, heißt es in Ermittlerkreisen.
Gleichzeitig sind aber Zweifel zu hören, ob sich auf diese Weise jemals zu 100 Prozent nachweisen oder ausschließen lasse, ob Jatta und Daffeh dieselbe Person sind. Der Fall habe aber mittlerweile auch eine politische Dimension: Deshalb wolle man sich auf keinen Fall dem Vorwurf aussetzen, nicht allen Spuren nachgegangen zu sein.
Doch all diese Spuren haben noch immer keinen Beweis ergeben. Nicht durch die Polizei. Und auch nicht durch die „Bild“.
Jatta & Daffeh: Mythos über 98-prozentige Übereinstimmung
Diese schrieb in ihrer Ausgabe am Dienstag aber immerhin von einem ersten Gutachten des LKA, das eine Übereinstimmung von 98 Prozent ergeben habe. Gemeint sein dürfte das Gutachten über einen Lichtbildvergleich des LKA. Zahlreiche Unterlagen hierzu liegen auch dem Abendblatt vor. Dort ist allerdings immer nur von Wahrscheinlichkeiten (wahrscheinlich, mit hoher Wahrscheinlichkeit, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) die Rede.
Eine als numerische Wahrscheinlichkeit definierte Feststellung liegt nicht vor – wie auch Jattas Anwalt Thomas Bliwier auf Nachfrage bestätigt: „Es stimmt nicht, dass in dem Gutachten von 98 Prozent die Rede ist.“ Eine Nachfrage des Abendblatts beantwortete die Chefredaktion der „Bild“-Zeitung mit dem Verweis, dass man die eigenen Quellen nicht offenlegen würde.
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Doch dies ist nicht die einzige Ungereimtheit in der ganzen Angelegenheit, die Jattas Anwalt Bliwier scharf kritisiert. Er sagt: „Die neuen Ermittlungen der Universität Freiburg kommen einem Eingeständnis der Staatsanwaltschaft gleich, dass der Durchsuchungsbeschluss für die Hausdurchsuchung durch ein juristisch unbrauchbares Gutachten erfolgte.“ Zum Hintergrund: Anfang Juli war die Polizei – im Übrigen gemeinsam mit der „Bild“-Zeitung – bei einer Hausdurchsuchung, bei der mehrere Datenträger (Tablets, Smartphones, Blackberry) beschlagnahmt wurden.
HSV-Fans unterstützen Bakery Jatta
Sämtliche Geräte wurden mittlerweile aber wieder Jatta zurückgegeben. Nach Abendblatt-Information wurden auf diesen Geräten keinerlei belastende Dokumente oder Bilder gefunden. Deswegen sagt Bliwier: „Es wird immer absurder. Die Verbissenheit der Staatsanwaltschaft ist für mich nicht nachvollziehbar.“ Zudem habe er von dem neuen Gutachten der Universität Freiburg, das bereits am 25. November mithilfe von YouTube-Videos von Daffeh aus dem Jahr 2012 erstellt wurde, erst aus der „Bild“-Zeitung erfahren. „Die Verteidigung wurde dabei übergangen. Das ist ein erneuter Verstoß gegen die verfahrensrechtlichen Garantien“, sagt er.
Unabhängig von den Formalien bleibt aber vor allem die Frage im Raum, was das LKA, das selbst die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung übergangen hatte, eigentlich mithilfe der Uni Freiburg herausfinden will. Das fragen auch Celik und Özdemir von „Die Linke“ in Frage sieben ihrer Kleinen Anfrage: „Aus welchen Gründen wurde ein zweites Vergleichsgutachten in Auftrag gegeben?“
Jatta-Anwalt Bliwier: „Die ermittelnde Staatsanwältin kannte den Gutachtenauftrag an die Universität Freiburg nicht im Detail. Dieser Auftrag ging von der Polizei aus, obwohl es eigentlich in den Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft fällt." Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft betonte jedoch, dass ihre Behörde das Gutachten selbst in Auftrag gegeben habe.
Auch innerhalb der HSV-Fanszene hat man die neue Entwicklung im Fall Jatta ganz genau beobachtet. In einem öffentlichen Brief der aktiven Fanszene aus dem Förderkreis Nordtribüne e.V. heißt es unmissverständlich: „Wir wollen, dass diese elendige Schmierenkampagne ein für alle Mal ein Ende hat!“ Im letzten Satz des Briefes, mit dem vor allem Staatsanwaltschaft und „Bild“ kritisiert werden, steht auf Englisch: „Love Hamburg – Hate Racism! Bakery – no matter what, we got your back!“
HSV: Ermittlungen belasten Bakery Jatta
Und obwohl sich Jatta neben dem „Rücken freihalten“ der Fans auch der Unterstützung des HSV sicher sein kann, bleibt bei all den Fragen, die in diesem Zusammenhang öffentlich, nicht-öffentlich, in Gutachten, in Zeitungen und bald auch im Rathaus gestellt werden, eine Frage vermutlich unbeantwortet: Wie geht es Jatta?
Der Fußballer, der nach der Hausdurchsuchung im Juli, die live im Internet bei Bild.de übertragen wurde, in ein Leistungsloch gefallen war, hatte gerade erst wieder an beste Zeiten auf dem Platz anknüpfen können. In den vergangenen beiden Spielen gegen Karlsruhe (2:1) und Regensburg (3:1) traf er und war jeweils der beste Mann auf dem Platz. Ähnliches dürfte er sich auch im Spiel beim 1. FC Nürnberg vorgenommen haben.
HSV: Thioune reagiert auf Jatta-Ermittlungen
Zur Erinnerung: Vor anderthalb Jahren war es ausgerechnet der Club, dessen Einspruch gegen die Spielwertung aufgrund der unbewiesenen Identitätszweifel ganz Fußball-Deutschland ins Wanken gebracht hatte. Der VfL Bochum und der KSC fühlten sich durch das Vorgehen der Nürnberger gezwungen, ebenfalls Protest einzulegen. Das damalige Ende vom Lied: Sämtliche Anschuldigungen konnten nicht erhärtet werden – und Jatta und der HSV antworteten mit vier Siegen in Folge auf dem Platz.
Und diesmal? Als Trainer Daniel Thioune gefragt wurde, wie er die erneute Berichterstattung über Jatta wahrgenommen habe, zuckte der nur mit den Schultern. „Ich habe es wahrgenommen“, sagte Thioune. „Aber für mich ist das kein Thema. Es gibt keine neuen Erkenntnisse. Die einzige Erkenntnis ist, dass Baka momentan einen richtig geilen Job macht.“
Diesen Job hatten Jatta und seine Kollegen am Freitagmorgen bereits nach einer guten Stunde erledigt. Der Gambier ging als einer der letzten vom Trainingsplatz, grüßte erneut freundlich und machte sich langsam auf den Weg zur Treppe in Richtung Stadion. Schritt für Schritt ging der 22-Jährige die Stufen nach oben. Nur wer das alles mitgemacht hat, was Jatta bislang ertragen musste, der darf hoffen: Irgendwie und irgendwann geht es doch wieder aufwärts. Schritt für Schritt.