Hamburg. Im Duell HSV gegen St. Pauli treffen die Philosophien von Thioune und Schultz aufeinander. Was daran das Interessante ist.

Es fehlte nicht viel, und Daniel Thioune hätte in dieser Woche das Videomaterial des HSV studiert. Der Cheftrainer des Zweitliga-Tabellenführers verbringt bekanntermaßen viel Zeit an seinem Laptop mit der Gegneranalyse. Und wäre Thioune im Juli tatsächlich Trainer des FC St. Pauli geworden – einen Austausch soll es nach der Entlassung von Jos Luhukay gegeben haben –, würde er am Freitag (18.30 Uhr/Sky und im Liveticker auf abendblatt.de) sein erstes Hamburger Stadtderby in Braun-Weiß erleben. Weil aber auch der HSV gleichzeitig einen Nachfolger für Dieter Hecking suchte und am Ende das Rennen um Thioune entschied, studierte der 46-Jährige unter der Woche die Taktiken von St. Paulis Chefcoach Timo Schultz (43), um nun sein erstes Hamburg-Derby als Trainer des HSV zu gewinnen. „Ich freue mich, dass ich Timo am Freitag als Gegner gegenüberstehe“, sagte Thioune am Mittwoch und umkurvte elegant die Frage nach dem Interesse von St. Pauli.

Sowohl der HSV als auch der FC St. Pauli haben mit Thioune und Schultz im Sommer einen neuen Weg eingeschlagen, nachdem beide Clubs mit den Trainer-Routiniers Hecking und Luhukay zuvor die sportlichen Ziele verfehlt hatten. Statt Routine war Frische gefragt, Innovation, Aufbruchstimmung. Alles, nur kein Weiter-so. Doch nicht nur die Wege der zwei Zweitligisten ähneln sich, sondern auch die der Trainer selbst. Beide sind sich als Spieler oft begegnet, haben einst beim VfB Lübeck jeweils unter Dieter Hecking gespielt und sind dann später als Nachwuchstrainer ihrer Clubs zu den Profis aufgerückt.

Schultz lobt Thioune

„Ich kenne Timos Arbeit im Jugendbereich, wir haben uns schon häufig gesehen. Und ich habe gesehen, dass er als Trainer gereift ist, dass er Menschen entwickeln kann und dass er Fußballer entwickeln kann“, sagte Thioune vor ihrem ersten Duell als Trainer im Profifußball. Auch Schultz äußerte sich am Mittwoch voll des Lobes über seinen Kollegen. „Daniels Arbeit spricht für sich. Er hat in Osnabrück eine Drittligamannschaft übernommen, die unter ,ferner liefen‘ war, hat dann den Aufstieg geschafft und die Mannschaft in der 2. Liga etabliert.“ Und jetzt den HSV an die Tabellenspitze geführt – hätte er noch hinzufügen können. Aber das wäre womöglich zu viel des Lobes, denn St. Paulis Trainer will vor dem Duell der Stadtrivalen nicht zu nett klingen. „Wir können für den HSV eklig werden, wenn wir unsere Stärken abrufen“, sagt Schultz.

Eine dieser Stärken ist die Unberechenbarkeit. Das sagte Schultz nach dem 2:2 gegen den 1. FC Nürnberg: „Wir sind stark, wenn wir Unordnung kreieren können.“ „Ob Dreier- oder Viererkette, egal: Wir können beides“, sagt Vizekapitän Daniel Buballa. Die Flexibilität ist groß, welcher Spieler wann sich wie und wo einschaltet, man kann es nicht wissen. So ähnlich ist auch der HSV erfolgreich, ganz nach dem Forrest-Gump-Pralinenschachtelprinzip: „Du weißt nie, was du kriegst.“ Die Geschichte vom Spieler aus Aue, der bei der 0:3-Niederlage seiner Mannschaft im Volkspark einen Gegenspieler gefragt haben soll: „Was spielt ihr hier eigentlich?“, ist fast schon zu kurios, um wahr zu sein – könnte aber stimmen.

Schultz hat eine ähnliche Herangehensweise wie Thioune

Schultz hat eine ähnliche Herangehensweise wie Thioune. „Ich bin auch nicht der Verfechter von irgendwelchen festen Positionen, festen Abläufen und Laufwegen, von daher ähnelt das schon unserer Mannschaft“, sagt er. Und über den HSV: „Sie sind flexibel, können Dreier- und Viererkette spielen.“ Mittelfeldmann Marvin Knoll hat erkannt: „Die Stärken beim HSV sind, dass sie sich dem Gegner schnell anpassen können und individuelle Qualitäten haben. Dafür müssen wir einen guten Plan haben.“

Und den wird auch der HSV haben. Thioune deutete am Mittwoch an, dass es erneut zu einer Art Taktik-Schach der Trainer kommen wird. „St. Pauli stellt gerne mal das System um. Es werden taktisch ein paar Herausforderungen werden.“ Die Videoanalysten, die auf der Tribüne noch während der Partien ihre Live-Analysen zur Trainerbank funken, dürften am Freitagabend wieder ordentlich ins Schwitzen kommen, wenn sie in den ersten Minuten versuchen, das Anlaufverhalten und die Positionierungen des Gegners mit und ohne Ball zu analysieren und zu bespielende Raummöglichkeiten ausfindig zu machen. Seitdem es den Trainern erlaubt ist, mit einem Kollegen auf der Tribüne in Kontakt zu stehen, entwickeln sich die Spiele immer häufiger zu einer Art Live-Schach.

Nicht nur taktische Facetten sind gefragt

Daniel Thioune machte zwei Tage vor dem Derby aber auch deutlich, dass am Freitagabend nicht nur taktische Facetten gefragt sind. „Mir ist bewusst, dass es ein Spiel ist, in dem es nicht nur um drei Punkte geht“, sagte Thioune, der sich am Wochenende noch etwas zurückhaltender geäußert hatte, nun aber auch verbal in die Offensive geht. „Es ist mein erstes Stadtderby, das packt mich auch. Sie können sicher sein, dass es ein großes Thema in der Kabine ist.“

Zwölf Spieler stehen beim HSV noch im Kader, die in der vergangenen Saison beide Stadtderbys mit 0:2 verloren. Auf der anderen Seite hat St. Pauli noch neun Spieler, die beim bislang letzten Derbysieg im Februar im Volkspark dabei waren – und dieses Erlebnis nun wiederholen wollen. „Klar ist es unser Ziel, dem Spitzenreiter die ersten Punkte abzunehmen“, sagte Schultz. „Wenn es geht, vielleicht ja sogar alle drei.“

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Und weil es eben ein Derby ist, würde auch Thioune am Freitagabend mal alle taktischen Feinheiten etwas außer Acht lassen. „Ich brauche Spieler mit der Gier, dieses Spiel zu gewinnen. Und wenn ich Bock habe auf Fußball, wenn ich den Ball sauber von A nach B bringe, wenn ich Bock habe, den Ball zurückzuholen, dann ist es völlig egal, in welcher Ordnung man spielt. Dann darf man sich auch von taktischen Dingen und vom Rasenschach lösen.“

Die Taktiken der beiden Trainer, die am Freitagabend den Ausgang des Derbys entscheiden könnten, bricht Thioune auf eine einfache Formel herunter: „Am Ende geht es darum, den Ball in das Tor des Gegners zu bringen.“ In diesem Sinne: Das Derby kann beginnen.