Hamburg. Der neue HSV-Trainer Daniel Thioune könnte einen Abwehrspieler aus Osnabrück mitbringen. Welche Erfahrung er mit Rassismus machte.
Montagnachmittag, 15.30 Uhr. Trainervorstellung beim HSV. Mal wieder. Eine gute Halbzeit lang als Digitalpressekonferenz. Linksaußen Pressesprecher Philipp Langer. Rechtsaußen Sportvorstand Jonas Boldt. Und in der Mitte der neue Leistungsträger des HSV: Daniel Thioune.
„Ich sitze hier mit einem richtig guten Gefühl“, sagt der 45-Jährige, der am Montag in Überholspurgeschwindigkeit zum Nachfolger Dieter Heckings gekürt wurde. Am Wochenende hatte er erstmals mit Boldt gesprochen, war am Montagmorgen aus Osnabrück nach Hamburg gereist, unterschrieb einen Zweijahresvertrag und wurde dann zur Bundesliga-Primetime vorgestellt. Will man die Zoom-Pressekonferenz in einem Wort zusammenfassen, dann vielleicht so: „Brutal“.
HSV: Unter Thioune wird alles „brutal"
Der HSV habe „brutales Potenzial“, die Mannschaft müsse „brutalen Bock haben“, „brutal gegen den Ball spielen“ – und alle zusammen stehen nun vor einer „brutalen Herausforderung“. Achtmal „brutal“ in 45 Minuten. Doch die ganze Brutalität der kommenden Aufgaben macht vor allem Sportchef Boldt deutlich. „Aufgrund der gegebenen Rahmenbedingungen müssen wir unseren eingeschlagenen Kurs anpassen“, sagt er. „Wir müssen ab sofort viel mehr den Schwerpunkt auf das Wort „Entwicklung“ legen. Und in Daniel sehen wir den prädestinierten Kandidaten.“
Die Zeiten von „Der HSV gehört in die Top fünf der Bundesliga“ sind vorbei. Daran lässt auch Thioune keine Zweifel: „Wir brauchen eine Portion Demut“, sagt der Ur-Osnabrücker, der gerade mal elf Kilometer von der VfL-Heimstätte Bremer Brücke geboren wurde. „Wir müssen in der Zweiten Liga ankommen und mindestens die Augenhöhe mit den anderen Mannschaften entwickeln“, sagt der Coach, der mit Außenseiter Osnabrück durch Einsatz und Wille vier von sechs möglichen Punkten gegen den HSV holte.
HSV sticht St. Pauli bei Thioune aus
Kurioserweise hätte nicht viel gefehlt, dass Thioune den HSV auch nach der Saison noch ein drittes Mal so richtig geärgert hätte. Nach Abendblatt-Informationen war der zweifache Familienvater in der vergangenen Woche auch intensiv mit Lokalrivale St. Pauli in Gesprächen, sagte dem Kiezclub aber ab, als sich das HSV-Interesse nach anfänglichen Gesprächen mit Sportdirektor Michael Mutzel und Chefscout Claus Costa am Wochenende konkretisierte.
Dank der festgeschriebenen Ablöse, die nach Abendblatt-Informationen leicht über den bislang kolportierten 300.000 Euro liegen soll, ging es am Montag dann plötzlich ganz schnell.
Doch wer ist dieser Daniel Thioune? Wer das wirklich wissen möchte, der braucht nur zu lesen, was der Jungtrainer im Rahmen seines Lehrgangs zum Fußballlehrer selbst geschrieben hat. Für den Kurs, den er 2015 mit mittlerweile etablierten Kollegen wie Julian Nagelsmann (RB Leipzig), Domenico Tedesco (Spartak Moskau), Pellegrino Matarazzo (VfB Stuttgart) und Kenan Kocak (Hannover 96) absolvierte, musste er auf 30 Seiten seine Trainerphilosophie umreißen.
Wie Daniel Thioune zum Trainer wurde
Doch alles, was Thioune ausmacht, steht bereits auf der Titelseite. Nur vier Sätze – und die sind auch noch geklaut. Aus dem Film „Das Streben nach Glück“. Dort sagt Hauptdarsteller Will Smith: „Hey, lass dir von niemandem je einreden, dass du was nicht kannst. Wenn du einen Traum hast, musst du ihn beschützen. Wenn du was willst, dann mache es. Basta!“
Die Filmzitate sind so etwas wie Thiounes Lebensmotto. Er ist ein Spätstarter, der sich trotzdem nie hat sagen lassen, dass er etwas nicht kann. Als Spieler kickte er noch mit 20 in der Bezirksklasse, ehe er die beste Zeit seiner Karriere beim VfB Lübeck erlebte, als er bereits fast 30 Jahre alt war. Ähnlich lief es auch abseits des Rasens. Nach der Realschule wurde er zunächst Kaufmann für Bürokommunikation.
Die HSV-Trainer seit 2008
Sein Fachabitur holte er später nach, erwarb das Diplom zum Sportfachwirt und fing sogar ein Studium der Erziehungswissenschaften und Sport an der Universität Vechta an. Seine Bachelor-Arbeit gab er erst ab, als schon längst klar war, dass er es eben doch als Profitrainer schaffen wird. Seine Abschlussnote erhielt er im Frühling des vergangenen Jahres, fünf Tage vor der Party des VfL Osnabrück zum Aufstieg in die Zweite Liga.
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Thioune war schon einmal HSV-Kandidat
Dass an jenem April-Abend, als der VfR Aalen mit 2:0 besiegt und somit die Rückkehr in die Zweite Liga gesichert wurde, ganz Osnabrück Kopf stand, blieb auch im 220 Kilometer entfernten Hamburg nicht verborgen. Als Boldt-Vorgänger Ralf Becker eine Liste mit zehn Trainernamen für die Nachfolge von Hannes Wolf zusammenstellte, fehlte auch der Name Thioune nicht.
Der Newcomer war gerade von den Kollegen und Kapitänen zum Trainer des Jahres der Dritten Liga gewählt. Von 40 Stimmen entfielen 35 auf Thioune. Doch der HSV entschied sich gegen den „Entwickler“ aus der Dritten Liga und für den Europa-League-Trainer aus der Bundesliga – der Rest ist Geschichte.
Thioune lernte den Fußball unter Hecking
Zu dieser Geschichte gehört natürlich auch, dass Hecking einst in Lübeck Thioune trainierte – und seitdem als eines seiner Trainervorbilder gilt. „Er war der Erste, bei dem ich Fußball als komplexes System begriffen habe“, sagte er mal der „Neuen Osnabrücker Zeitung“, der er auch verriet, was er vor allem von ihm gelernt habe: „Team geht vor Ego.“
16 Jahre nach der gemeinsamen Zeit in Lübeck ließ Thioune vor der Aufstiegssaison 2018/19 seine Spieler einen Vertrag unterzeichnen, in dem eine Botschaft stand: „Nur im Team wird der Einzelne außergewöhnlich.“
Zwei Jahre später sitzt Thioune im ersten Stock des Volksparkstadions und ist von diesem Gedanken aus Osnabrücker Tagen noch immer fest überzeugt. „Ich werde grundsätzlich versuchen, alle mit auf eine Reise zu nehmen.“
Welche Spieler Thioune beim HSV entwickeln will
Auf die Reise in die Hansestadt wird ihn zunächst nur Merlin Polzin (29) begleiten. Der gebürtige Hamburger, der bereits von 2011 bis 2013 im HSV-Nachwuchs als Trainer unter Vertrag stand, arbeitet seit sechs Jahren als Co-Trainer an Thiounes Seite. Wie es mit den bisherigen Hecking-Assistenten Tobias Schweinsteiger und Dirk Bremser weitergehen wird, soll erst in den kommenden Tagen entschieden werden.
Auch die Zusammenstellung seiner neuen Mannschaft wird erst in den kommenden Tagen an Konturen gewinnen. Neben den jungen Talenten (Josha Vagnoman, Xavier Amaechi, Jonas David, Stephan Ambrosius, Amadou Onana, Aaron Opoku und Manuel Wintzheimer) möchte er auch die erfahrenen Spieler (Jeremy Dudziak, Sonny Kittel, David Kinsombi und sogar Aaron Hunt) weiterentwickeln.
Er werde den Spielern Lösungen aufzeigen, neue Inhalte anbieten. „Es gibt unfassbar viele Ansätze, mit denen wir die Spieler sicherlich auch mal überfrachten werden. Aber das gehört dazu, denn dadurch sind sie auch schneller in der Lage, ihr Spiel zu adaptieren.“ Am Ende könne es sein, dass man zwischendurch auch mal einen Schritt zurückgehe, um dann aber mit Anlauf nach vorne zu kommen.
Bringt Thioune Osnabrücks Heyer mit?
Die größte Baustelle innerhalb des Kaders sei die Innenverteidigung, wo mit Moritz Heyer ein weiterer Osnabrücker die Lösung sein könnte. Und obwohl sich Thioune auf Nachfrage in Schweigen hüllte, war der 25 Jahre alte Abwehrmann laut eigenem Instagram-Posting bereits gestern in Hamburg.
Heyer gehörte zu den Spielern, die „Entwickler“ Thioune gemeinsam mit Sportchef Benjamin Schmedes vor einem Jahr nach dem Aufstieg quasi aus dem Nichts zauberte. Der VfL holte für null Euro 13 Spieler und gab zehn Profis ab. Heyer kam aus der Dritten Liga vom Halleschen FC – und wurde direkt zum Leistungsträger in der Zweiten Liga.
Ähnliche Zauberei soll Thioune nun auch beim HSV vollbringen. Doch er soll noch mehr: Er muss den am Boden liegenden Dino aufrichten, ohne Gelder für Zuversicht sorgen und trotz schwierigster Bedingungen auch abseits des Platzes Positivität verbreiten.
Als Thioune Opfer von Rassismus wurde
Eine Herkulesaufgabe. Doch Thioune hat in seinem Leben schon ganz andere Dinge geschafft. Der Sohn einer Deutschen und eines senegalesischen Geschäftsmanns weiß genau, dass einer wie er in der niedersächsischen Provinz doppelt und dreifach liefern musste, um zum Ziel zu kommen. „Man muss als Schwarzer deutlich härter arbeiten, um zu leben wie ein Weißer“, sagte Thioune mal in einem Interview mit „11 Freunde“, in dem er über seine Erfahrungen mit Alltagsrassismus berichtete.
Er beschrieb, wie es sich anfühlt, wenn er im Stadion die „Asylanten, Asylanten“-Sprechchöre hörte und wie er an Kneipen mit „den Jungs mit den ganz kurzen Haaren und den Springerstiefeln“ schneller vorbeigehen musste. Gegenspieler beschimpften ihn als „Neger“, doch das Bild, das sich bei ihm am meisten eingeprägt hatte, war das eines Ordners in Chemnitz. Der hatte ein T-Shirt mit einem Swoosh vorne drauf. „Darüber stand nicht ,Nike‘, sondern ,Nazi‘. So was kannte ich nicht.“ Genauo wenig wie die „Haut den Neger um“-Gesänge, die ihm 12.000 Zuschauer entgegenschmetterten.
Das alles ist zwar lange her, aber noch immer sehr präsent. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum Thioune in der Hinrunde der vergangenen Saison mit viel Herzblut HSV-Profi Bakery Jatta verteidigte. „Es ist unsäglich, dass dieses Thema so hochkocht“, sagte der Trainer, der ganz nebenbei erster (und traurigerweise auch einziger) dunkelhäutiger Cheftrainer im deutschen Profifußball ist. Wenn also einer Widerstände überwindet, dann er.
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