Hamburg. Vor direktem Duell am Donnerstag leiden Traditionsclubs an ähnlichen Problemen. Wie schon so oft in den vergangenen Jahren.

Für Dieter Hecking sind englische Wochen nichts Ungewöhnliches mehr. Der Trainer des HSV hat in seinen 20 Jahren als Fußballlehrer schon so einige Europacup- und Pokalabende erlebt. Insofern ist es für ihn auch normal, dass seine Spieler am heutigen Dienstag nicht ihren gewöhnlichen freien Tag genießen dürfen, sondern sich im Volkspark auf das Zweitliga-Topspiel am Donnerstag (20.30 Uhr/Sky) beim direkten Verfolger VfB Stuttgart vorbereiten. Hecking sieht den ungewohnten Ablauf gelassen: „Es ist ja nicht meine erste englische Woche und auch für die Spieler wird sie es nicht sein.“

Tatsächlich haben es die HSV-Profis in dieser Saison erst einmal erlebt, dass sie innerhalb einer Woche drei Spiele bestreiten mussten. Ziemlich genau sieben Monate ist es her, dass die Hamburger zunächst am Sonnabend und dann schon wieder am Dienstag antraten. Der Gegner damals in der Liga: VfB Stuttgart.

Der Gegner drei Tage später im DFB-Pokal: VfB Stuttgart. Und der Gegner am Donnerstag: VfB Stuttgart. Vor dem spektakulären Hinspiel Ende Oktober, das der HSV im Volksparkstadion 6:2 gewann, war für die meisten Experten klar, dass die Hamburger und die Stuttgarter die ersten beiden Aufstiegsplätze untereinander ausspielen. Vor dem Rückspiel am Donnerstag in der Mercedes-Benz-Arena heißt es nun aber für den HSV und den VfB: Es kann nur noch einen direkten Aufsteiger geben.

Dennis Aogo (33), ehemaliger HSV- und Stuttgart-Profi
Dennis Aogo (33), ehemaliger HSV- und Stuttgart-Profi © WITTERS | ValeriaWitters

Ein Wettrennen der vergebenen Chancen

Sieben Punkte liegt der HSV nach dem 0:0 gegen Arminia Bielefeld hinter dem Tabellenführer aus Ostwestfalen. Der VfB hat nach der 2:3-Niederlage in Kiel bereits acht Zähler Rückstand. Wenn alles normal läuft, wird sich Bielefeld den ersten Platz nicht mehr nehmen lassen.

Hamburg und Stuttgart leiden dagegen auch in dieser Saison wieder an den Problemen, die sich in den vergangenen Jahren wie bei kaum einem anderen Club durch den Alltag zogen: Unruhe, Inkonstanz und unausgeschöpfte Potenziale. Die beiden Vereine mit den größten Etats und den qualitativ stärksten Kadern der Zweiten Liga liefern sich in dieser Spielzeit mal wieder ein Wettrennen der vergebenen Chancen. Von dem am Ende möglicherweise noch der FC Heidenheim als lachender Dritter profitiert.

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Warum aber tun sich der HSV von 1887 (sechsmal deutscher Meister) und der VfB von 1893 (fünfmal deutscher Meister) so schwer, ihr Potenzial auch zu Punkten zu machen? Kaum einer könnte diese Frage besser beantworten als Dennis Aogo. Der frühere Nationalspieler erlebte in seiner Zeit beim HSV von 2008 bis 2013 eine emotionale Achterbahnfahrt mit Europa-League-Halbfinalspielen, Abstiegsängsten und zahlreichen Trainerwechseln. Kaum anders erging es ihm in seinen beiden Jahren von 2017 bis 2019 beim VfB Stuttgart. In der ersten Saison als Aufsteiger nur ganz knapp die Europa League verpasst, stieg Aogo vor ziemlich genau einem Jahr nach der verlorenen Relegation gegen Union Berlin in die Zweite Liga ab.

"Beide Vereine laufen mit einem großen Rucksack der Erwartungen herum"

„Es gibt zwischen den Clubs sehr viele Parallelen“, sagt Aogo am Montag, als er sich über den Videodienst Zoom in den Abendblatt-Podcast „HSV – wir müssen reden“ einschaltet. Der 33-Jährige ist nach seiner Vertragsauflösung bei Hannover 96 im Januar aktuell vereinslos und hat daher genug Zeit, die Lage seiner Ex-Clubs zu analysieren. Aogos Einschätzung in Kurzform: „Beide Vereine laufen mit einem großen Rucksack der Erwartungen herum. Und die Frage ist, ob diese Erwartungen eigentlich gerechtfertigt sind. Oft sind es ja Erwartungen aufgrund der Vergangenheit, die man in der Gegenwart gar nicht bedienen kann.“

Über die Fragen nach den Erwartungshaltungen der zwei Traditionsclubs im Spannungsverhältnis zwischen Ge­genwart und Vergangenheit könnte nicht nur Aogo eine Doktorarbeit schreiben. Vor dem direkten Duell der Ligaschwergewichte versucht es der WM-Teilnehmer von 2010 aber auf einen Nenner zu bringen: „Beide Kader sind so gut, dass sie am Ende der Saison unter den ersten drei Plätzen sein müssen“, sagt Aogo, der das Spiel für Sky am Donnerstag als Studioexperte begleiten wird.

Die beiden Clubs, die mit nur zwei (HSV) beziehungsweise null (VfB) Punkten aus der Corona-Pause gekommen sind, sieht Aogo aktuell auf Augenhöhe – mit leichten Vorteilen für Hamburg: „Der HSV ist ein bisschen gefestigter, wirkte auch in den jüngsten Spielen stabil. Beim VfB scheint es so, dass man sich noch nicht zu 100 Prozent gefunden hat.“

„Es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen“

Wirtschaftlich hat der VfB Stuttgart in den vergangenen Transferperioden eigentlich vieles richtig gemacht. Mehr als 50 Millionen Euro nahmen die Schwaben allein nach dem unerwarteten Abstieg im vergangenen Sommer ein. So viel Geld erwirtschaftete der HSV auf dem Transfermarkt in den vergangenen fünf Jahren nicht. Stuttgarts Sportdirektor Sven Mislintat investierte wiederum in hochveranlagte Perspektivspieler wie Silas Wamagituka (19), Sasa Kalajdzic (21) oder Mateo Klimowicz (18). Mit einem Gesamtmarktwert von rund 60 Millionen Euro liegt der VfB klar vor dem HSV (47 Millionen Euro). Zum Vergleich: Arminia Bielefeld hat einen Kaderwert von 20 Millionen, Heidenheim von 19 Millionen Euro.

In der Tabelle aber könnte Heidenheim schon am Mittwoch mit einem Auswärtssieg beim FC St. Pauli am HSV und dem VfB vorbeiziehen und zusammen mit Bielefeld die direkten Aufstiegsplätze belegen. Dennis Aogo glaubt jedoch nicht, dass Heidenheim am Ende tatsächlich der große Coup gelingt. Trotz aller Probleme sieht er seine „Exen“ aus Hamburg und Stuttgart vorn. „Es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen“, sagt Aogo.

Der HSV hat personell einen Vorteil gegenüber Stuttgart

Personell dürfte der HSV aktuell im Vorteil sein. Trainer Dieter Hecking konnte sich zuletzt sogar den Luxus erlauben, einen Spieler wie Louis Schaub gar nicht einzusetzen. Beim VfB fehlt dagegen am Donnerstag Schlüsselspieler Daniel Didavi, der dem HSV in der Vergangenheit schon oft Probleme bereitet hat. Trotzdem hat auch VfB-Trainer Pellegrino Matarazzo genügend Qualität im Kader, um den Didavi-Ausfall zu kompensieren.

HSV-Trainer Hecking und VfB-Coach Matarazzo äußerten sich trotz der Enttäuschungen am Sonntag selbstbewusst. „Wir sind absolut in der Lage, unser Ziel zu erreichen“, sagte Hecking. Auch Matarazzo gibt sich angriffslustig: „Gegen den HSV geht es um alles.“

Und Dennis Aogo? Der würde sich freuen, wenn seine Ex-Clubs im nächsten Jahr wieder in der Bundesliga spielen. „Es ist sehr ungewohnt, über das Zweitligaduell zwischen dem HSV dem VfB zu sprechen“, sagt Aogo. „Ich hoffe, dass sich das bald wieder ändert.“

Den ganzen Podcast mit Dennis Aogo hören Sie kostenfrei auf abendblatt.de/hsv-podcast.