Hamburg. Nach dem Last-Minute-Sieg gegen Dynamo Dresden rechnet der HSV-Trainer mit den Kritikern ab – und hebt einen Spieler hervor.

Wäre diese 94. Minute am Vortag nicht gewesen, HSV-Trainer Dieter Hecking hätte sich am Sonntagvormittag vor dem Volksparkstadion ganz andere Fragen anhören müssen: wieso der HSV zum vierten Mal nacheinander ein Pflichtspiel nicht gewinnen konnte; ob das System mit der Raute im Mittelfeld gegen Dynamo Dresden nicht vielleicht doch das falsche war; und überhaupt: ob der HSV jetzt in der Krise steckt.

Aber weil in ebenjener 94. Minute David Kinsombi den glücklichen, aber irgendwie doch verdienten 2:1-Siegtreffer geschossen hatte, der HSV zum zweiten Mal nacheinander in der Nachspielzeit Schlimmeres verhindert hat und jetzt wieder Tabellenführer der 2. Bundesliga ist, hätte die Medienrunde am Sonntag für Hecking zu einer leichten Pflichtübung werden können. Hätte. Doch der HSV-Trainer nutzte die Gelegenheit zunächst, um angestauten Frust loszuwerden und Kritiker-Kritik zu üben.

HSV-Trainer Hecking will nichts von Krise hören

"Ich war die letzten Tage schon richtig angefressen", sagte Hecking. Da habe der HSV von 14 Punktspielen eines verloren, sei in der Liga seit acht Spielen ungeschlagen – "mehr Argumente kann die Mannschaft nicht liefern". Und dann habe er sich vor dem Spiel doch tatsächlich fragen lassen müssen, ob nicht schon eine Krise heraufziehe.

"Das ist überzogen und ein Grundübel in Hamburg in den vergangenen Jahren, ein Teil dessen, warum es hier nicht läuft", schimpfte Hecking, "das geht so nicht, ich versuche da gegenzusteuern."

Kritik sei ja erlaubt, wenn es mal richtig schlecht laufe. Aber davon könne hier ja keine Rede sein. "Wir haben drei Pflichtspiele nicht gewonnen – dann wird hier schon eine Krise herbeigeredet. Das kann ich nicht nachvollziehen." Das musste wohl einmal raus.

HSV lief deutlich mehr als Dresden

Dann wandte sich der HSV-Coach erfreulicheren Aspekten zu. Tim Leibold fiel ihm da als Erster ein. Der linke Verteidiger und zweifache Vorbereiter war nicht nur für Hecking "der herausragende Spieler. Was er angeschoben hat, war richtig gut." Sind es nun acht oder elf Tore, die der Neuzugang in dieser Saison schon aufgelegt hat?

Es ist so oder so ein Spitzenwert. Leibold komme zugute, dass er mit Sonny Kittel und Jeremy Dudziak auch privat bestens auskommt. Dieses Verständnis, so Hecking, schlage sich auf dem Platz nieder.

Der HSV in der Einzelkritik

Und dann der eingewechselte Siegtorschütze Kinsombi: Dass der frühere Kieler nach seinem Schienbeinbruch noch Zeit brauche, um wieder der Alte zu sein, sei auch den Daten zu entnehmen. "Aber er ist sehr torgefährlich. Und er kann nach vier, fünf Wochen Rückundenvorbereitung wieder auf dem Niveau sein, das er in Kiel hatte", sagte Hecking.

Und dann die Mannschaft insgesamt. Sie habe sich am Ende für den enormen Aufwand belohnt, den sie vor allem nach dem 0:1 betrieben hat. "Wir sind sechs, sieben Kilometer mehr gelaufen als der Gegner. Das ist ein Zeichen von körperlicher Frische, aber auch von Mentalität."

Amaechi vor Rückkehr, Hinterseer bleibt fraglich

Selbst der dreimal bemühte Videobeweis konnte dem HSV-Trainer die Laune nicht verderben, auch wenn er zweimal zuungunsten seiner Mannschaft ausfiel. Hecking: "Worüber wollen wir uns beschweren? Es wurde alles korrekt entschieden, auch wenn es knapp war. Besser geht es gar nicht. Wir haben uns für den Videobeweis im Fußball entschieden, dann muss man damit umgehen."

Es gibt also keinen Grund, verunsichert zum nächsten Spiel beim VfL Osnabrück (Freitag, 18.30 Uhr) zu fahren. Zwar bleibt Bakery Jatta nach seiner Roten Karte von Kiel auch für dieses Spiel noch gesperrt. Dafür bekommt Hecking im Angriff wohl zusätzliche Optionen. Flügelspieler Xavier Amaechi dürfte in den Kader zurückkehren. Die Oberschenkelprellung, die sich der Engländer vergangene Woche im U-19-Länderspiel gegen Bosnien und Herzegowina zugezogen hatte, ist so weit verheilt, dass er am Dienstag wieder ins Mannschaftstraining (10 und 15.30 Uhr) einsteigen kann.

Stürmer Lukas Hinterseer hatte am gleichen Tag die gleiche Verletzung erlitten, bei dem österreichischen Nationalstürmer könnte sich der Heilungsprozess aber noch länger hinziehen. Hecking: "Ob die Einblutung nur von dem Schlag herrührt oder auch die Struktur beschädigt worden ist, lässt sich erst sagen, wenn sich der Bluterguss zurückgebildet hat. Ich habe aber die Hoffnung, dass es bis Freitag klappt."

Mit Ewerton wird Dreierkette zur HSV-Option

In der Innenverteidigung buhlen nun sogar schon vier Spieler um zwei Startplätze. Oder sind es drei Startplätze? Gegen Dresden verdrängte Timo Letschert Gideon Jung auf die Ersatzbank. Doch nun, da auch der lange verletzte Ewerton sich fit meldet, wird die Dreierkette zur taktischen Option für Hecking. Sollte der Brasilianer in Osnabrück noch nicht zum Einsatz kommen, wird er am Sonnabend im Regionalligaspiel der zweiten Mannschaft gegen Tabellenführer VfL Wolfsburg II seine HSV-Pflichtspielpremiere nachholen.

Selbst Rick van Drongelens Startplatz erscheint nicht mehr unantastbar, zumal sich einige Fehler in das Spiel des Niederländers eingeschlichen haben. Hecking: "Rick weiß, dass er sich diesem Konkurrenzkampf stellen muss."

Im Tor wird der Trainer möglicherweise zu seinem Wechsel gezwungen. Daniel Heuer Fernandes trug bei einem Zusammenprall am Sonnabend eine schwere Schienbeinprellung davon. Das Gegentor wollte Hecking ihm nicht ankreiden. Heuer Fernandes hatte zunächst einen Schuss von René Klingenburg nach vorn abprallen lassen und anschließend den Schlenzer von Niklas Kreuzer undberührt passieren lassen. Hecking sah das Problem woanders: "Wir müssen die Situation insgesamt besser verteidigen und im Mittelfeld Zweikämpfe gewinnen." Aber dank Kinsombis Köpfchen spielte das ja auch keine Rolle mehr.