Hamburg. Für das Abendblatt wagt Ex-HSV-Keeper René Adler den Seitenwechsel und interviewt Neu-HSV-Torhüter Daniel Heuer Fernandes.
René Adler schaut durch das Fenster der Stadionloge auf den Rasen, klopft Daniel Heuer Fernandes auf die Schulter und sagt: „Hier kann man es aushalten, oder?“ Adler (34), Ex-Torhüter des HSV, 117 Bundesligaspiele für die Hamburger, und Heuer Fernandes (26), gerade erst verpflichteter HSV-Torhüter, der an diesem Sonntag (13.30 Uhr) auf genau diesem Rasen gegen seinen Ex-Club Darmstadt 98 im Volkspark sein Debüt feiern will, kennen und schätzen sich.
Und trotzdem war es ein ungewöhnliches Treffen in dieser Woche in den VIP-Räumlichkeiten des Stadions. Das Abendblatt hatte Adler gefragt, ob er nicht Lust hätte, für einen Tag einen Seitenwechsel zu wagen und seinen Nach-nach-Nachfolger zu interviewen. Der frühere HSV-Torhüter war sofort Feuer und Flamme – und auch Heuer Fernandes hatte direkt Lust auf dieses etwas andere Interview. Herausgekommen ist am Ende ein einstündiges Gespräch über den HSV, Hamburg, modernes Torwartspiel und Urlaub auf den Malediven.
René Adler: Daniel, ich fall als Ein-Tages-Journalist mal mit der Tür ins Haus: Hat euch Trainer Dieter Hecking eigentlich schon darüber informiert, wer am Sonntag gegen Darmstadt in die neue Saison als Nummer eins startet?
Daniel Heuer Fernandes: Nein, offiziell hat er noch nichts verkündet. Er hat uns Dreien nur gesagt, dass er zufrieden sei, wie wir gearbeitet haben.
Adler: Also ein offener Dreikampf?
Fernandes: Natürlich will jeder spielen. Und natürlich ist es auch mein Anspruch, am Sonntag auf dem Platz zu stehen. Wie war das denn bei dir damals? Als du zum HSV kamst, war ja auch noch Jaroslav Drobny da, oder?
Adler: Stimmt. Aber ich kam als ablösefreier Nationaltorhüter zum HSV – da war für viele ziemlich klar, dass ich als neue Nummer eins anfangen werde. Und ehrlich gesagt gehe ich auch davon aus, dass es bei dir jetzt ähnlich sein wird: Du wurdest ja nicht aus Darmstadt als Ersatzkeeper verpflichtet.
Fernandes: Das hoffe ich natürlich auch. Aber genauso klar ist auch, dass man sich nie ausruhen darf. Das kommt sofort als Bumerang zurück.
Adler: Fußball kann schon manchmal brutal sein. Ich kann mich noch gut an meine Leverkusener Zeit erinnern. Da hat das ganze Stadion meinen Namen gebrüllt, dann verletzte ich mich, der 19 Jahre alte Bernd Leno kommt, macht es herausragend gut, und einen Moment später skandiert das ganze Stadion seinen Namen. Das zeigt, dass man sich in dem Geschäft keine Sekunde zurücklehnen kann.
Fernandes: Ich weiß, was du meinst. Ich kenne ja auch das Gefühl, nur Ersatzmann zu sein.
Adler: Ich muss zugeben, dass mich das besonders an deinem Werdegang beeindruckt hat. Du kamst nach Paderborn als Nummer zwei – und hast dich durchgesetzt. Dann holte dich Darmstadt, du musstest wieder ein Jahr warten, bis du spielen durftest. Und das zeigt deine Beharrlichkeit. Du kommst mir wie ein klassischer Step-by-Step-Fußballer vor. Hast du einen konkreten Karriereplan, den du verfolgst?
Fernandes: Überhaupt nicht. Mein übergeordnetes Ziel war und ist, dass ich früher oder später ein Bundesligatorhüter sein möchte. Am liebsten natürlich so schnell wie möglich.
Adler: Deine Geschichte ist irgendwie verrückt. Es ist gerade einmal vier Monate her, dass du hier mit Darmstadt als Gegner gespielt hast – und damals, wie viele sagen, in nur einem Spiel den Anfang vom Ende für den HSV eingeleitet hast.
Fernandes: Das war auf jeden Fall ein unglaubliches Spiel, eine der merkwürdigsten Partien, die ich je erlebt habe. Der HSV hatte in der Vorwoche das Derby 4:0 gewonnen und spielte uns mit den Fans im Rücken an die Wand. 2:0 stand es nach nicht einmal 20 Minuten, und man spürte sehr deutlich, was für eine Kraft dieses Volksparkstadion entwickeln kann. Das war schon sehr beeindruckend. Aber nach dem 2:2 war das ganze Stadion entsetzt. Wir hätten den Punkt sofort unterschrieben – aber dann stürzte alles auf den HSV ein. Und genau in dieser Situation schießt Darmstadt dann auch noch das 2:3. Wahnsinn.
Adler: Wirklich Wahnsinn. Und dann wechselst du ausgerechnet zum HSV. Warum eigentlich? Der HSV ist ja nicht gerade als Verein bekannt, in dem man sich in den letzten Jahren in Ruhe entwickeln konnte …
Fernandes: Für mich war das Angebot, hierherzukommen, ein ganz großer Entwicklungsschritt. Vielleicht ist hier keine Ruhe, aber natürlich ist der HSV eine ganz andere Hausnummer.
Adler: Wie meinst du das?
Fernandes: Ein gutes Beispiel ist noch mal das Darmstadtspiel der vergangenen Saison. Die Wucht, die uns am Anfang entgegengeschlagen ist, die habe ich so fast noch nirgends erlebt. Darmstadt ist ja in der ersten Halbzeit kaum über die eigene Mittellinie gekommen. Auch wenn der HSV das Spiel verloren hat, ist mir in dieser Partie sehr deutlich gemacht worden, was der HSV den Menschen in Hamburg bedeutet.
Adler: Dieses Gefühl habe ich auch immer. Der HSV ist für Hamburg genauso wichtig wie der Hafen, die Reeperbahn oder die Elbphilharmonie. Jeder redet gerne über den HSV – egal ob es dem Club gerade besonders gut oder schlecht geht.
Fernandes: Und genau das meine ich mit größerer Hausnummer.
Adler: Wirst du denn auch viel angequatscht und auf den HSV angesprochen?
Fernandes: Das hält sich noch in Grenzen, ich bin ja aber auch noch sehr neu. Am Trainingsplatz sagen mir die Fans schon sehr direkt, was sie hoffen und wovon sie träumen. Aber in der Stadt habe ich eher hanseatische Zurückhaltung erlebt. Und trotzdem spürt man dieses HSV-Gefühl überall.
Adler: Die Leute haben eine riesige Sehnsucht nach besseren Zeiten. Ich kann mich zum Beispiel noch daran erinnern, wie ich zu Beginn meiner HSV-Zeit am Morgen nach einem Heimsieg gegen Dortmund beim Bäcker stand und HSV-Fans hupend im Autokorso am Bäcker vorbeifuhren. Es gab auch schon Restaurantbesitzer, die nach einem Sieg darauf bestanden, dass sie mich einladen wollten. Hamburg ist wirklich positiv fußballverrückt.
Fernandes (lacht): Das muss ich mir wahrscheinlich erst noch verdienen.
Adler: Gerne direkt gegen deine alte Mannschaft am Sonntag. Was die Journalisten vor so einem Spiel ja auch immer fragen: Hattest du schon Kontakt mit deinen ehemaligen Kollegen?
Fernandes: Klar. Seitdem die Partie terminiert ist, gab es viele Nachrichten. Am meisten hat mir Marcel Heller geschrieben. Und natürlich würde ich lügen, wenn ich behaupten würde, dass es nicht besonders ist, direkt gegen die alten Kollegen ranzumüssen. Du kennst das ja ...
Adler: Für mich war die Partie gegen Leverkusen auch nach Jahren kein gewöhnliches Bundesligaspiel. Mit Stefan Kießling und Simon Rolfes zum Beispiel hatte ich auch Jahre später noch guten Kontakt – und habe mich über jedes Treffen mit ihnen gefreut. Aber ich habe in der Woche vor so einem direkten Duell ganz bewusst den Kontakt ein wenig runtergefahren, um nicht den Fokus zu verlieren.
Fernandes: Das geht mir genauso. Der berühmte Tunnel vor dem Spiel …
Adler: Genau. Gerade als Torhüter ist man ja wirklich extrem konzentriert. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich war sogar nach Spielen, in denen ich gar nichts zu halten bekam, total alle. Ich konnte dann im Bus auf der Rückkehr vom Auswärtsspiel teilweise keinen Film mehr entspannt sehen, weil ich mental so fertig war.
Fernandes: Was ja keiner wirklich mitbekommt: Als Torhüter bist du immer unter Strom. Du musst dir beispielsweise permanent Gedanken über deine Positionierung machen, selbst wenn der Ball am gegnerischen Strafraum ist. Im Extremfall verfolgst du 90 Minuten lang den Ball und musst dich die ganze Zeit auf den Fall der Fälle vorbereiten.
Adler: Genauso war es am Anfang meiner Karriere. Bei mir wurde es erst mit zunehmender Erfahrung etwas entspannter. Da habe ich mir schon einmal die Freiheit genommen, kurz auch mal hochzuschauen und die Atmosphäre zu genießen. Das war schon verrückt: Da bist du als Fußballer in diesen unglaublichen Stadien wie in Dortmund, in Hamburg oder sonst wo – und ich konnte diese Momente anfangs gar nicht aufsaugen. Ich wage mal die These, dass man als Torhüter 90 Minuten lang mehr konzentriert sein muss als jeder Feldspieler.
Fernandes: Das denke ich auch. Als Keeper bist du schon vor dem Anpfiff in diesem Tunnel.
Adler: Hast du irgendwelche Marotten oder Rituale?
Fernandes: Überhaupt nicht. Ich bin wahrscheinlich einer der wenigen Fußballprofis, die komplett ohne Aberglauben auskommen.
Adler: Ich spielte mit Kollegen, auch jetzt noch engen Freuden, deren kompletter Wochenablauf eins zu eins nachgebaut werden musste, wenn gewonnen wurde. Bei mir hielt sich das dagegen in Grenzen. Ich habe mir immer den linken Schienbeinschützer zuerst angezogen. Das war es aber auch schon. Die einzige Fußballerweisheit, an die ich in diesem Zusammenhang glaube: Man spielt so, wie man trainiert.
Fernandes: Hattest du einen Trainer, der auf diese Weisheit besonders viel Wert gelegt hat?
Adler: Oh, ja: Jupp Heynckes. Der ist richtig böse geworden, wenn unser Abschlusstraining nicht so lief, wie es ihm passte. Und du? Wie ist dein erster Eindruck von Dieter Hecking?
Fernandes: Total positiv. Das Trainerteam ist ja total erfahren, hat aber trotzdem einen guten Draht zur Mannschaft. Er fordert und fördert viel. Wir bekommen zum Beispiel viel neuen Input. Hattest du denn jemals Kontakt zu ihm?
Adler: Das ist eine lustige Geschichte. Aber ich habe Dieter Hecking beim Schnorcheln kennengelernt.
Fernandes: Die Geschichte musst du jetzt aber auch komplett erzählen.
Adler: Das war 2010 während der WM. Weil ich ja die Weltmeisterschaft durch eine Verletzung in letzter Minute verpasste, wollte ich so weit wie möglich weg. Ich war dann auf den Malediven. Und da war ich dann durch Zufall im gleichen Hotel wie Dieter Hecking und seine Familie. Bei einem Schnorchelausflug sind wir uns dann quasi unter Wasser über den Weg gelaufen. Später sind wir uns dann natürlich auch immer wieder an Land in der Bundesliga begegnet – zuletzt im Winter, als wir mit Mainz gegen Gladbach ein Testspiel machten. Was mir da extrem aufgefallen ist: wie stark Gladbachs Torhüter Yann Sommer dank seiner fußballerischen Fähigkeiten dazu angehalten wurde, erster Mann im Spielaufbau zu sein. Er war so eine Art Point Guard wie im Basketball. Selbst wenn mal etwas nicht geklappt hat, hat er mit einem totalen Selbstverständnis den nächsten Ball wieder so gespielt. Trainer Hecking hat ihn in seinem Handeln immer bestärkt und sogar eingefordert, auch nach Fehlern genauso weiterzumachen. Will er diese Spielweise nun auch von euch hier beim HSV?
Fernandes: Auf ein gepflegtes Torwartspiel legt der Trainer schon einen großen Wert. Das lässt er auch einstudieren, im Torwarttraining fängt das ja an. Wir werden dazu angehalten, gegnerische Spieler zu überspielen, um ein schnelles Spiel zu forcieren. Es muss nur Sinn machen.
Adler: Das ist genau der Punkt. Es darf aus meiner Sicht kein Selbstzweck sein. Manuel Neuer hat dieses Torwartspiel ja auf ein neues Level gebracht. Aber wenn man genau hinschaut, dann sieht man auch, dass er dieses Torwartspiel je nach Trainer anders interpretiert. Pep Guardiola wollte einen anderen Neuer als Kovac.
Fernandes: Ein paar HSV-Trainer hattest du ja auch. Wollten die auch immer unterschiedliche René Adlers?
Adler: Natürlich musste ich meinen Spielstil modifizieren. Das ist auch immer abhängig vom Tabellenstand. Wenn du mit dem Rücken zur Wand stehst, dann geht es um das nackte Ergebnis. Das war bei uns leider in den letzten Jahren zu oft der Fall. Aber es gab natürlich auch Trainer, die mich bestärkt haben, flach herauszuspielen. Und andere, bei denen es vermehrt darum ging, den Ball so weit wie möglich nach vorne zu schlagen.
Fernandes: Gerade am Anfang der vergangenen Saison haben auch wir für unser Spiel nicht gerade einen Schönheitspreis verdient. Aber der jetzige Darmstadt-Trainer Dimitrios Grammozis bevorzugt auch, dass man den Ball von hinten nach vorne sauber herausspielt. So ein Torwartspiel kommt auch mir zugute.
Adler: Ich bin mir sicher, dass du in Hamburg deinen Weg gehst. Eine Frage hätte ich aber noch zum Schluss: Nachdem ich dich ja ausnahmsweise mal für das Abendblatt interviewen durfte, würde mich mal interessieren, wen du gerne mal befragen wollen würdest …
Fernandes: Die schwierigste Frage ganz zum Schluss … Da fällt mir spontan nur Cristiano Ronaldo ein. Wobei ich nicht mal weiß, ob meine Portugiesischkenntnisse für ihn reichen würden.
Adler: Du sprichst nicht fließend?
Fernandes: Jein. Meine Muttersprache ist Deutsch. Meine Eltern haben auch nie Portugiesisch gesprochen. Aber ich habe mir mit Einzelunterricht selbst Portugiesisch beigebracht, als ich vor ein paar Jahren für die U 21 nominiert wurde.
Adler: Und? Ist die portugiesische A-Nationalmannschaft noch immer ein Traum für dich?
Fernandes: Ein weit entfernter Traum, den man aber natürlich träumen darf. Kurioserweise habe ich gerade erst im Testspiel gegen Piräus meinen ehemaligen Torhüterkonkurrenten aus der portugiesischen U 21 getroffen: José Sá. Er ist jetzt zweiter Torhüter der A-Nationalmannschaft.
Adler: Dann drücke ich dir die Daumen, dass du es schaffst. Und wenn du es nicht schaffen solltest, dann sprich dich besser mit deinem Coach ab, wo er Urlaub machen will, damit du unter Wasser nicht überrascht wirst …