Hamburg. Er hat früh gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Ein Gespräch über seine Generation, seine Erziehung und die Sprache seiner Jugend.
Wenn Berkay Özcan am Montag im Heimspiel gegen Greuther Fürth (20.30 Uhr/Sky) ein Tor erzielt, wird er seine Hände wieder zu einem S formen. Ein Gruß an seine Freunde aus der „Southside“, dem Süden von Karlsruhe. Dort hat der türkische Nationalspieler, der im Januar vom VfB Stuttgart zum HSV gewechselt ist, seine Jugend verbracht. Der 21-Jährige ist Teil einer neuen Generation von jungen Fußball-Profis, die früh in der Verantwortung stehen. Doch wie tickt diese Generation eigentlich? Özcan hat viel zu erzählen, als er sich mit dem Abendblatt im Volksparkstadion zum Interview trifft.
Hamburger Abendblatt: Herr Özcan, waren Sie in den vergangenen zwei Wochen im Casino?
Berkay Özcan: Nein. Wie kommen Sie darauf?
Sie wurden vor zwei Wochen 21 Jahre alt. Laut Gesetz dürften Sie in jetzt in allen Bundesländern in die Spielbank gehen. In Thüringen könnten Sie sich zum Bürgermeister wählen lassen. Und Sie haben das Mindestalter für Adoptionsbewerber oder Lokomotivführer erreicht.
Özcan: Da habe ich noch nicht drüber nachgedacht. Ich bin als Fußballer sehr glücklich (lacht). Und Casinos sind eh nichts für mich. In den USA dürfte ich nun Bier trinken. Da ich aber eh keinen Alkohol trinke, ist mir das egal. Wobei es da mal eine lustige Geschichte gab.
Erzählen Sie.
Özcan: Als wir mit dem VfB Stuttgart vor zwei Jahren aufgestiegen sind, haben wir überlegt, eine Mannschaftsfahrt nach Los Angeles zu machen. Wir hatten aber so viele Spieler in der Mannschaft, die noch nicht 21 waren. Da haben viele gesagt, was sollen wir in L.A.? Da dürfen wir nicht mal Bier trinken.
Was haben Sie dann gemacht?
Özcan: Wir sind nach Ibiza geflogen (lacht).
Wie in Stuttgart haben Sie jetzt beim HSV eine sehr junge Mannschaft. Fühlen Sie sich mit 21 überhaupt noch jung?
Özcan: Ich merke vor allem beim Kreisspiel, dass die Mannschaft noch jünger ist. Ich muss hier nicht mehr in die Mitte. In Stuttgart musste ich immer in die Mitte oder das Material nach dem Training einsammeln. Ich bin beim HSV schon im Mittelalter (lacht).
Reden die jungen Spieler untereinander eigentlich anders als mit den älteren?
Özcan: Der sprachliche Umgang ist vielleicht etwas anders. Mit Jungs wie Orel Mangala, den ich noch aus Stuttgart kenne, benutze ich eher mehr Jugendsprache. Ich hatte beim VfB aber auch zu Mario Gomez, Holger Badstuber oder Andreas Beck einen guten Draht. Gomez war wie ein großer Bruder für mich. Mit dem konnte ich auch meine Späße machen. Er hat auch auf mich aufgepasst. Wichtig ist, dass du eine gute Mischung in der Mannschaft hast. Die haben wir beim HSV. Wir kommen alle gut miteinander klar.
Verraten Sie uns bitte, wie die Jugend heute spricht. Welches Wort hört man am häufigsten in der HSV-Kabine?
Özcan: Ach, das sind die üblichen Worte. Digga, Bruder, Bro. Oder Brudi, wie Léo Lacroix sagt. Oder auch Çüş.
Çüş?
Özcan: Das ist ein türkisches Wort und bedeutet so viel wie boah, oha oder heftig. Das ist in der deutschen Jugendsprache aber sehr geläufig.
Entschuldigen Sie, wenn wir da nicht auf dem neuesten Stand sind. Gibt es das Wort Babo noch? Haben Sie einen Babo in der Mannschaft?
Özcan: Nein, einen Babo gibt es nicht. Wir haben einen Papa. Kyriakos Papadopoulos. Und unseren Kapitän. Aaron Hunt.
Worüber reden Sie denn heutzutage in der Kabine? Geht es auch mal um Politik?
Özcan: Über Politik reden wir eigentlich nie. Meistens geht es um Fußball, um das letzte oder nächste Spiel. Wenn es mal nicht um Fußball geht, reden wir auch einfach gerne viel Quatsch oder wir tauschen Instagram-Videos aus.
Wie kann man sich das Innenleben in der Kabine nach einem Spiel vorstellen? Holt jeder sein Handy raus und checkt erst mal seine Instagram-Storys?
Özcan: Das Handy hat schon vieles verändert. Es stimmt, dass meistens jeder erst mal guckt, was auf dem Handy los ist. Der Trainer will aber, dass wir nach dem Training erst in den Kraftraum gehen und unsere Übungen machen, bevor wir das Handy in die Hand nehmen.
Siezen Sie Ihren Trainer?
Özcan: Ja. Wir sagen Trainer, aber wir siezen ihn. Das ist im Fußball immer so.
In Ihre Mannschafts-WhatsApp-Gruppe darf der Trainer aber nicht, oder?
Özcan: Nein, das ist ein geschützter Raum für die Spieler (lacht). Wir nutzen die Gruppe, um uns mal zum Essen zu verabreden oder wenn wir einen Mannschaftsabend haben. Hauptsächlich tauschen wir lustige Fotos oder Videos aus.
Lesen Sie überhaupt noch Zeitung?
Özcan: Nein. Aber ich mag Zeitung. Zeitung ist Kult. Als Kind habe ich davon geträumt, in der Zeitung zu stehen. Meine Eltern bewahren immer noch jeden Artikel über mich auf. Wenn ein Artikel über mich erscheint, habe ich ihn lieber auf Papier als online. Das ist cooler. Aber ansonsten läuft heute alles über das Handy.
Haben Sie eine Lieblings-App? Man sagt, Facebook sei in Ihrer Generation schon wieder out.
Özcan: Instagram und WhatsApp sind bei der Jugend die Nummer eins. Facebook hat schon stark abgebaut. Da bin ich kaum noch aktiv. Das interessiert die Jugend heute auch nicht mehr. Selbst Snapchat ist nicht mehr so wichtig. Auch Twitter wird hier im Vergleich zur Türkei nicht so stark genutzt.
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Machen Sie Ihre Einträge selbst?
Özcan: Ich habe ein Social-Media-Team. Posten wir über meinen Kanal etwas, wird das erst mal in einer WhatsApp-Gruppe besprochen, welches Bild wir nehmen und welchen Text wir schreiben. Die Storys mache ich aber auch mal selbst.
Dann haben Sie sicher auch schon mal einen Shitstorm erlebt, oder?
Özcan: Nicht direkt. Es gab aber mal Berichte in der Türkei, dass ich mich nicht für die türkische Nationalmannschaft entschieden habe, weil ich nicht zu einem U-21-Spiel gefahren bin. Daraufhin habe ich ein Bild gepostet, auf dem ich im Türkei-Trikot zu sehen war mit der Kapitänsbinde. Damit wollte ich ein Zeichen setzen für die Türkei. Trotzdem haben noch viele Leute unschöne Kommentare geschrieben.
Berührt Sie so etwas?
Özcan: Das berührt mich nicht, weil es in dem Fall auch nicht stimmte. Ich hatte einfach nur körperliche Probleme. Für mich war früh klar, dass ich für die Türkei spielen will.
Wer hat Sie bei dieser Entscheidung beraten?
Özcan: Das war eine gemeinsame Entscheidung von mir, meinen Freunden und meiner Familie. Ich habe ja in der U 15 noch für Deutschland gespielt. Aber ich habe es neulich schon mal gesagt: Deutschland war schon viermal Weltmeister, die Türkei noch nie. Es wäre ein großer Reiz, das als erster Spieler zu schaffen. Auch für diese Aussage habe ich mir einiges anhören müssen. Aber ich stehe dazu. Für mich ist es wichtig, sich hohe und ehrgeizige Ziele zu setzen, auch wenn die im Moment nur schwer vorstellbar sind. Wenn ich keine Ziele habe, brauche ich auch nicht Fußball zu spielen.
Sie wirken schon erstaunlich selbstbewusst. Wer hat Sie in Ihrer Erziehung und in Ihrer Jugend am meisten beeinflusst?
Özcan: Meine Familie natürlich, aber auch viele Menschen aus meiner damaligen Hood. Ich bin in Karlsruhe in der Südstadt aufgewachsen. Das ist ein Viertel, in dem viele Türken und Italiener leben. Ich war dort jeden Tag auf dem Bolzplatz. Mein Vater war damals immer dabei. Er hat mich überall hingefahren. Und nicht nur mich, auch die anderen Jungs aus der Südstadt. Mein Vater hat viele vom Bolzplatz dazu gebracht, im Verein zu spielen, damit sie nicht nur auf der Straße herumhängen. Beim FC Südstern fing für mich dann alles an. Mein Vater war immer dabei und daher in meiner Erziehung sehr wichtig für mich. Meine Mutter natürlich auch, sie hat sich aber mehr um meine schulischen Leistungen gekümmert.
Sie sind in der U 16 ins Internat des VfB Stuttgartgezogen. Hatten Sie das Gefühl, einen Teil Ihrer Jugend zu verpassen?
Özcan: Nein. Im Gegenteil. Ich war neulich mit Arianit Ferati und Fabian Gmeiner aus der U 21 essen. Mit Fabi habe ich beim VfB im Internat gewohnt. Wir haben uns daran erinnert, dass wir eine echt coole Zeit hatten. Wir waren wie eine Familie. Jeder hat auf den anderen aufgepasst. Wir haben abends immer zusammen Fußball geguckt, sind morgens zusammen mit dem Bus zur Schule gefahren. Am Anfang war es schwer, von der Familie wegzuziehen. Aber das Gefühl war schnell vorbei. Wir haben viel erlebt im Internat. Ich hatte nicht das Gefühl, viel zu verpassen. Man lernt außerdem, schneller erwachsen zu werden und eigene Entscheidungen zu treffen.
Es gab nach der WM eine Debatte in Deutschland, dass die jungen Fußballer heute zu stromlinienförmig und taktisch zu einseitig ausgebildet werden. Haben Sie das auch so empfunden?
Özcan: Die Frage habe ich schon mehrfach gehört. Aber ganz ehrlich: Ich sehe das anders. Der Fußball entwickelt sich immer weiter. Auch taktisch. Es wird immer Neues dazugekommen. Die Spieler können aber immer noch selbst entscheiden, was sie auf dem Platz machen. Natürlich hat der Trainer einen Plan. Aber der Spieler trifft seine eigenen Entscheidungen. Und das ist auch wichtig so. Kein Trainer verbietet dir zu dribbeln. Du kannst heute immer noch ein Künstler sein.
Gestatten Sie uns zum Abschluss eine Frage, die wenig mit Ihrer Jugend zu tun hat. Haben Sie sich schon einmal mit der Altersvorsorge auseinandergesetzt?
Özcan: Für solche Dinge habe ich meinen Berater, der für mich sehr wichtig und wie ein großer Bruder ist. Den habe ich, seit ich 15 bin. Ich vertraue ihm, er hilft mir in allen Lebenslagen. Und natürlich meine Familie. Wenn ich mit denen mal in der Bank sitze, höre ich zwar zu und will auch alles wissen. Letztendlich will ich aber einfach nur Fußball spielen.