Hamburg. Trainer Wolf, Stratege Mangala und nun auch Özcan – Manager Becker hat ein kleines Stuttgart im Norden geschaffen.
Der Pokalsieg gegen den 1. FC Nürnberg war am Dienstagabend gerade ein paar Minuten alt, als Lewis Holtby vor allem an eines dachte: ans Essen. Angesprochen auf Neuzugang und Torschütze Berkay Özcan erinnerte der Vizekapitän des HSV in großer Runde daran, dass man als Premierentorjäger neben einem Obolus in die Mannschaftskasse doch bitte schön auch für das leibliche Wohl der Kollegen zu sorgen habe. „Berkay ist ein richtig guter Kicker“, sagte Holtby und lobhudelte über allerhand Qualitäten, die der Ex-Stuttgarter mitbringe. Und dann folgte der entscheidende Satz: „Der wird uns bestimmt mal zum Essen einladen.“
Der kulinarische Wink mit dem Zaunpfahl hatte sich am Tag nach dem hochverdienten 1:0-Sieg bis in die Hamburger Neustadt herumgesprochen. „Der HSV hat doch so viele Stuttgarter, die können gerne mal zum Essen vorbeikommen“, ließ am Mittwochmorgen Elisabeth Wehrle, Inhaberin des schwäbischen Imbisses Zum Spätzle, ausrichten. Eigentlich sei sie ja eher St.-Pauli-Sympathisantin, sagte die gebürtige Schwäbin aus dem Landkreis Biberach bei Ulm. Aber ihr Vater sei vor allem ein großer VfB-Freund. Und überhaupt: Schwaben und Schwaben müssten schließlich zusammenhalten.
So viel Ländle steckt im HSV
Tatsächlich steckt im HSV mehr Ländle, als man meinen könnte. Architekt der hanseatischen VfB-Außenstelle ist Sportvorstand Ralf Becker. Geboren in Leonberg, 13 Kilometer westlich von Stuttgart. Sparsam und fleißig, wie man es von einem echten Schwaben erwartet, hat Becker eine Art Little Stuttgart im Norden geschaffen, das ähnlich Großes wie der VfB vor anderthalb Jahren erreichen soll: den direkten Wiederaufstieg in die Bundesliga.
Wie genau das klappen kann, weiß am besten Beckers wichtigster Stuttgart-Import: Trainer Hannes Wolf. Der Coach ist im Sommer 2017 mit dem VfB aufgestiegen – zusammen mit einem blutjungen Team und den beiden ebenso jungen Mittelfeldstrategen Orel Mangala und Berkay Özcan. Mangala und Özcan, beide in der Aufstiegssaison gerade 19 Jahre jung, waren seinerzeit wichtige Schlüsselspieler für Wolf – und sollen es jetzt im hohen Norden erneut werden.
Die Abendblatt-Analyse des Pokalerfolgs gegen Nürnberg
Mit Özcan und Mangala im zentralen Mittelfeld, stellte der hungrige Nicht-Schwabe Holtby nach dem Pokalsieg fest, werde das HSV-Spiel auch in der Liga deutlich besser: „Über dieses Kombinationsspiel werden wir sehr dominant und lassen den Gegner laufen.“ Und nachdem Mangala nach einem Schlag auf dem Oberschenkel bereits am Freitag wieder ins Mannschaftstraining einsteigen soll, dürfte auch Neuzugang Özcan erneut gegen Dresden am Montag in der Startelf gesetzt sein.
Özcan kam vor allem wegen Wolf
„Berkay hat gezeigt, dass er am Ball den Unterschied ausmachen kann. Ballsicher, stark im Dribbling, körperlich stark, mit einem guten Auge“, lobte Gotoku Sakai, übrigens noch so ein Ex-Stuttgarter. „Und Berkay hat in Stuttgart schon mit unserem Trainer gearbeitet. Die Philosophie kennt er also.“
Özcan kennt Wolfs Philosophie nicht nur – sie war der Hauptgrund für seinen Umzug aus dem Süden in den Norden. „Der Trainer hat eine sehr große Rolle bei meinem Wechsel gespielt“, hatte der gebürtige Baden-Württemberger direkt nach der Vertragsunterschrift zugegeben. „Hannes Wolf ist in Sachen Arbeitseifer und Einsatz eine Art Vorbild für mich. Ich weiß, dass man mit ihm Großes schaffen kann. Das haben wir damals beim VfB bewiesen.“
Schaffe schaffe, Häusle baue. So haben Wolf, Özcan und Mangala bereits die Zweitligasaison 2016/17 dominiert. Am Ende kehrte der VfB mit 69 Punkten, einer Tordifferenz von 63:37 Treffern und einem Altersschnitt von beeindruckenden 23,43 Jahren standesgemäß als Zweitligameister zurück in die Bundesliga. Jünger ist nur einer: der HSV.
Jüngstes HSV-Team aller Zeiten
„Ich weiß nicht, ob es in den vergangenen Jahren schon mal eine so junge Mannschaft gab“, sagte Becker nach dem Sieg gegen Nürnberg – und hatte mit seiner Frage sogar recht. Denn während der Gesamtkader einen rekordverdächtigen Altersschnitt von 23,3 Jahren aufweist, konnte dieser am Dienstag noch unterboten werden. Die Startelf war 22,5 Jahre im Schnitt, die eingesetzten 14 HSV-Profis waren sogar nur 22,46 Jahre – seit Beginn der Aufzeichnungen 1963 gab es nie ein jüngeres HSV-Team.
Bleibt nur zu hoffen, dass bei aller Parallelität zum VfB dieser blutjunge HSV darauf verzichtet, sich auch nach einem möglichen Aufstieg an den Stuttgartern zu orientieren. So griff Neu-VfB-Chef Michael Reschke direkt nach der Rückkehr in die Bundesliga tief in die Tasche, gab allein in der ersten Saison mehr als 30 Millionen Euro aus und holte vor allem erfahrene Altherrenkräfte wie Dennis Aogo (30), Holger Badstuber (28), Andreas Beck (30), Mario Gomez (32) und Ron-Robert Zieler (28). Der Erfolg war überschaubar. Trainer Wolf, dem besonders ein gutes Händchen für Talente nachgesagt wird, musste ein halbes Jahr später gehen. Auch Nachfolger Tayfun Korkut durfte nur acht Monate bleiben, ehe schließlich Markus Weinzierl übernahm – und seitdem mit dem VfB im akuten Abstiegskampf steckt.
’S isch halt, wie’s isch, sagt man im Ländle. Es ist nun mal so, wie es ist. Und trotzdem darf man das Wichtigste im Leben natürlich nicht vergessen: das Essen. Elisabeth Wehrle könnte jedenfalls die eine oder andere Empfehlung aussprechen, sollte Neuzugang Özcan seine HSV-Kollegen tatsächlich in ihren Gourmettempel einladen wollen. Spätzle mit Soß’ für 8,90 Euro zum Beispiel. Maultaschen in Brühe für 10,90 Euro. Oder eine Flädlesupp’ (Pfannkuchenstreifen in Gemüsebrühe) für 4,90 Euro. In diesem Sinne: Guada Honger!
Das Pokalspiel gegen Nürnberg in Bildern:
HSV gegen Nürnberg – wer ist hier erste Liga?