Wolfsburg/Hamburg. Die “griechischen“ Wochen gehen weiter: Der schon für abgestiegen erklärte HSV hat reelle Chancen auf die Relegation.

Christian Titz musste sich beeilen. Um 11.15 Uhr verließ der HSV-Trainer am Sonntag vorzeitig die Einheit seiner Mannschaft. „Meine Tochter Mia hat heute Kommunion. Und da muss der Papa dabei sein“, sagte Titz zwei Stunden zuvor, als er bereits am frühen Morgen die TV-Teams zur Analyse im Innenbereich des Volksparkstadions versammelte. Geschlafen hatte der 47-Jährige zu diesem Zeitpunkt nur drei Stunden. Unmittelbar nach dem 3:1 (2:0)-Auswärtssieg beim VfL Wolfsburg am Sonnabend war Titz nach Mainz zum ZDF-„Sportstudio“ gefahren, ehe er kurz vor Mitternacht wieder in Hamburg eintraf.

„Kurz vor Zwölf“ hieß es für den HSV noch Stunden zuvor, als der Tabellenvorletzte beim VfL Wolfsburg zum erneuten Abstiegsendspiel antrat. Bei einer Niederlage wäre Hamburg abgestiegen. Doch der HSV und der Abstieg – es scheint einfach nicht zusammenzupassen. Mit einem verdienten Sieg vor 29.400 Zuschauern in der Volkswagen-Arena feierte der HSV seine abermalige Wiederauferstehung. Innerhalb von zwei Wochen hat der Club einen Acht-Punkte-Rückstand in einen Zwei-Punkte-Rückstand verwandelt. Die erneute Rettung des Bundesliga-Dinos erscheint plötzlich wieder realistisch.

Titz hat ein totes Team reanimiert

„Das Viertelfinale haben wir überstanden. Jetzt kommt das Halbfinale“, sagte Lewis Holtby. Der Mittelfeldspieler bemühte damit die derzeitige Lieblingsmetapher des HSV, die Trainer Titz seiner Mannschaft vor Augen geführt hatte. „Ich glaube immer noch fest daran, dass wir es schaffen“, so Holtby. Dass sich die vor Wochen abgeschlagenen Hamburger noch zwei K.-o.-Spiele erkämpft haben, verdanken sie gleich mehreren Wiederauferstandenen.

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Da wäre zum einen Holtby selbst. Unter den Trainervorgängern Markus Gisdol und Bernd Hollerbach nur Tribünenhocker, erzielte der 27-Jährige in Wolfsburg sein viertes Tor im sechsten Titz-Spiel. „Es freut uns alle, dass Lewis so gut funktioniert. Er ist ein entscheidendes Puzzleteil in unserer Mannschaft“, sagte Titz. Dass der mehrfach angeschossene HSV noch lebt, hat er aber vor allem seinem Chef-Aufersteher zu verdanken. Titz hat ein totes Team reanimiert.

Und das in einer Geschwindigkeit, die selbst seinen größten Förderer erstaunt. „Dass die Jungs in der Kürze der Zeit so eine Ruhe am Ball ausstrahlen, ist schon überraschend“, sagte Direktor Sport Bernhard Peters. Der Nachwuchschef hatte die Beförderung des U-21-Trainers zu den Profis zu verantworten. Zwei Monate später präsentierte sich in Wolfsburg erneut ein spielstarkes HSV-Kollektiv. „Erstaunlich, wie die Mannschaft mitten in der Saison unter diesem Stress im spielerischen Bereich besser geworden ist“, freute sich Peters.

Bobby Wood wieder in der Startelf

Trotz der schwierigen Ausgangslage nahm der HSV bei stark verunsicherten Wolfsburgern von Beginn an das Heft des Handelns in die Hand. Titz hatte erstmals in seiner Amtszeit den US-Amerikaner Bobby Wood wieder in die Startelf gestellt. Eine mutige Entscheidung, schließlich enttäuschte der 25-Jährige in nahezu allen seinen bisherigen 21 Saisonspielen. Doch diesmal enttäuschte Wood seinen Trainer nicht.

Wie verwandelt wirkte der Stürmer. Verwandelt in den Wood, der vor einem Jahr mit starken Spielen schon einmal die Wende des HSV herbeigeführt hatte – und nach einer unangemessenen Gehaltserhöhung im Sommer in eine lange Krise schlitterte. In Wolfsburg überzeugte Wood in vorderster Front nicht nur durch seine Ballbehauptung und seine Laufbereitschaft, er beendete mit seinem Strafstoß zum 1:0 (43.) seine 1293 Minuten andauernde Torflaute.

Die Auferstehung des HSV war an diesem Wochenende auch die Wiederauferstehung des Bobby Wood. „Er hat sich heute für seine gute Leistung belohnt“, sagte Titz. Monatelang hatte Wood mit sich gehadert, sich zurückgezogen. Durch verschiedene Einzelgespräche baute Titz mit seinem Trainerteam den Stürmer wieder auf. „Das muss man auch mal ein bisschen strenger angehen und ihm gleichzeitig deutlich machen, dass man von seiner Qualität überzeugt ist“, sagte Titz.

Dass es in der HSV-Mannschaft stimmt, zeigte die Genese des Elfmeters. Nachdem der erneut starke Tatsuya Ito von Josuha Guilavogui zu Fall gebracht wurde, gab der etatmäßige Elfmeterschütze Aaron Hunt den Ball an Wood weiter. „Ich weiß um seine Situation und dass er mit sich hadert“, sagte Hunt, der auch privat ein gutes Verhältnis mit Wood pflegt. „ Er ist ein Spieler, der so ein Erfolgserlebnis braucht, damit ihm das in den kommenden Wochen Selbstvertrauen gibt. Er hatte das nötiger als ich“, sagte Hunt.

Die griechischen Wochen beim HSV gehen weiter

Einen Elfmeter so schnell nicht wieder schießen wird dagegen Filip Kostic. Der Serbe, der Anfang März beim 0:0 gegen Mainz 05 einen an Luca Waldschmidt verursachten Strafstoß vergeben hatte, wollte es in Wolfsburg wieder gutmachen. Nach dem zwischenzeitlichen Anschlusstreffer von Josip Brekalo per Freistoß (78.) war es wieder der eingewechselte Waldschmidt, der einen Elfmeter herausholte. Kostic trat an – und vergab ähnlich kläglich wie schon gegen Mainz: flach und zentral.

Doch in diesen Wochen der Hamburger Wiederauferstehung macht dem HSV auch ein vergebener Elfmeter nichts aus. Waldschmidt, der zuletzt vor einem Jahr gegen Wolfsburg seinen bisher einzigen Bundesligatreffer erzielt hatte, machte im Nachschuss alles klar (90.+3). Der HSV ist jetzt wieder an Bruno Labbadias Wölfen dran. „Das ist ein schönes Gefühl“, sagte Waldschmidt. Jetzt wollen wir am letzten Spieltag ein Finale haben.“ Am Sonnabend geht es zu Eintracht Frankfurt, am letzten Spieltag dann gegen Mönchengladbach.

Zuvor wird der HSV seinem Ritual treu bleiben – und sich auf erneute Einladung von Kyriakos Papadopoulos am Dienstagabend wieder beim Griechen „Thessaloniki“ in Pinneberg treffen. Für Waldschmidt jedoch ein „Katastrophe“, wie er mit einem Lächeln zu Protokoll gab. Waldschmidt ist wie auch Holtby Veganer und die Auswahl beim Griechen entsprechend gering. Sollte sich der HSV nach einem Sieg in Frankfurt in der kommenden Woche erneut in Pinneberg treffen, wird Waldschmidt die Gyrosplatten gerne in Kauf nehmen.