Fans empfangen neuen Coach euphorisch. In 113 Minuten studiert Titz mit sechs Neuen ein offensiveres System ein und verändert viel.
Hamburg. Mit einem Dauergrinsen im Gesicht schreitet Christian Titz um 10.12 Uhr die Treppe am Volksparkstadion herunter. Höflich winkt er den plötzlich wieder optimistischen Fans entgegen und begrüßt sie mit einem typisch Hamburgischen "Moin". Die knapp 60 Anwesenden bedanken sich mit Dauer-Klatschen. „Herr Titz, Sie schaffen, Sie schaffen es. Sie werden es schaffen“, ruft ein beneidenswert vor Euphorie strotzender Fan dem neuen HSV-Trainer zu. Schnell wird klar: Es ist wieder Premieren-Alltag beim HSV.
"Diese Euphorie ist sehr angenehm und wichtig, weil sie für die Spieler entscheidend ist", schätzt Titz die Unterstützung der nimmermüden Fans. Nach 113 Minuten intensiver Arbeit mit dem Ball dürfen die Profis in die Kabine, um sich kurz zu erholen. Vorher müssen sie noch Autogramme schreiben. Um 15 Uhr geht es schon weiter mit der zweiten Einheit des Tages.
Nach nur sieben Wochen hatten sich die Hamburger am Montag von ihrem Übungsleiter Bernd Hollerbach getrennt und den bisherigen U21-Coach befördert. Und plötzlich liegt wieder ein Hoffnungsschimmer über dem Volkspark. „Wir glauben, dass er den HSV noch retten kann“, sagte Nachwuchs-Chef Bernhard Peters, der den bisherigen Jugendtrainer Titz schätzt und maßgeblichen Anteil an dessen Aufstieg zum Chefcoach hat.
In den verbleibenden acht Bundesligaspielen soll dem Kurpfälzer also nichts Geringeres gelingen als ein mittelschweres Fußball-Wunder. "Es ist eine schwierige Aufgabe, das ist mir völlig klar, ich kann ja die Tabelle lesen. Aber glauben Sie mir, ich fokussiere mich nur auf die kommende Aufgabe Hertha BSC", sagte Titz, der sich nach eigener Aussage nicht damit beschäftigt hat, welche Rolle er im Verein über die Saison hinaus bekommt. "Das darf ich gar nicht, weil mich das von der eigenen Arbeit ablenken würde."
Titz bringt sechs neue Spieler mit
Bei seiner ersten Einheit mit den Profis wirbelte Titz die Trainingsgruppe gehörig durcheinander. Mit Matti Steinmann (23/Mittelfeld), Mohamed Gouaida (24/Flügelstürmer), Young-Jae Seo (22/Linksverteidiger) und den Offensivspielern Moritz-Broni Kwarteng (19) sowie Arianit Ferati (20) waren gleich fünf Spieler aus der zweiten Mannschaft dabei.
Kommentar: HSV muss sich klug neu aufstellen
Auch der polnische U19-Stürmer Marco Drawz (10 Tore und vier Vorlagen in 17 Einsätzen) durfte vorspielen. Selbst der einst persönlich von Titz trainierte Lewis Holtby (Schnittwunde am Schienbein) wirkte wieder mit, wodurch sich gleich 29 (!) Feldspieler auf dem Trainingsplatz tummelten. So voll war es noch nie im Volkspark.
"Wir wissen, dass die Gruppengröße nicht optimal ist", sagt Titz, der den Kader noch in dieser Woche ausdünnen will. "Gegen Ende der Woche werden wir den Kader reduziert haben und mit Spielern, die nicht dabei sind, parallel auf dem Nebenplatz in kleinen Gruppen trainieren." Voraussichtlich wird der Kurpfälzer 22 Profis nominieren, die sich um die 18 Kaderplätze duellieren. Dabei soll es sich aber um keine feste Einteilung handeln. Titz: "Wir werden versuchen, mit allen Spielern Einzelgespräche zu führen, um ihre Situation zu besprechen."
Dass vorerst sechs neue Spieler, die sich auf der großen Bühne Bundesliga noch nicht bewiesen haben, bei den Profis mitwirken, bewertet Titz vor allem als Vorteil. "Es sind in erster Linie Spieler mit Qualität, die unsere Spielidee kennen. Wir wollen durch diese Maßnahme den Konkurrenzkampf anheizen und sehen, wer sich durchsetzt: die Etablierten oder die Neuen."
HSV-Coach Titz lässt offensiver spielen
Anders als Ex-Trainer Hollerbach, der den Dienstagvormittag immer für intensives Lauftraining nutzte, begann Titz mit einer Taktiklehrstunde. Beim Verschieben studierte er ein offensives 4-1-4-1-System ein, damit der HSV endlich sein größtes Problem, das Herausspielen und Verwerten von Torchancen, in den Griff bekommt. Etwa alle zehn Minuten unterbrach der 46-Jährige die Einheit lautstark, um die Laufwege des Teams zu korrigieren. Dabei kam auch immer wieder seine Taktiktafel, die Holtby eifrig auf den Platz getragen hatte, zum Einsatz.
Titz' erste Einheit in Bildern
HSV-Trainer Titz zieht bei seiner ersten Einheit voll durch
Titz präsentierte sich als Kommunikator auf dem Platz. Er lobte und kritisierte viel, auch bei Kleinigkeiten. Wenn Spieler seine Vorgaben nur ungenügend umsetzten, wurden sie für fünf Liegestütze zur Unterhaltung der Zuschauer auf den Boden gebeten. Der neue HSV-Trainer zeigte aber auch seine einfühlsame Seite, nahm beispielsweise den in dieser Saison so glücklosen Bobby Wood auch mal in den Arm, wenn es nicht lief.
Die Innenverteidiger platzierte Titz auffällig häufig an der Grundlinie mit dem Ziel, den Aufbau spielerisch zu gestalten. Lange Bälle, eine Vorliebe von Ex-Ex-Coach Markus Gisdol, sind unter dem neuen Mann tabu. "Ich stehe für eine eigene Spielidee. Ich werde versuchen, am Spiel mit dem Ball zu arbeiten, um Lösungen zu finden, wie wir in der Offensive zum Erfolg kommen können", erklärt Titz, der bei der Ausführung seiner Ideen wie eine Kombination seiner beiden Vorgänger Pressing-Prediger Gisdol und Defensiv-Fanatiker Hollerbach klingt.
Titz: "Wir wollen mit mehr Ballbesitz agieren und den Ball nach Verlust aus einer gesunden Defensivordnung mit unseren guten Umschaltspielern schnell wieder zurückerobern." Er sagt aber auch: "Wenn sich Dinge nicht umsetzen lassen, werde wir sie anpassen."
Torhüter trainieren mit Augenklappe
Nach knapp einer Stunde probierte Titz bereits den dritten Trainingsplatz aus und nutzte somit die gesamte HSV-Anlage. Auch der neue Torwart-Trainer und Stefan-Wächter-Nachfolger Nico Stremlau ließ sich etwas einfallen. So musste der dritte Torhüter Tom Mickel zum Beispiel mit einer Augenklappe nach Bällen hechten.
Wie üblich folgten die Spieler aufmerksam den Anweisungen des neuen Trainerteams und zogen voll mit. Ein ganz normaler Trainerwechsel-Alltag beim HSV.