Hamburg. Der neue Trainer hat nie höherklassig gespielt und nie in der Bundesliga trainiert. Macht ein solcher Trainerwechsel jetzt noch Sinn?
Tür auf, Kamera an, Mikrofon läuft. Ein paar nette Worte über den alten Trainer, ein paar nette Worte über den neuen Trainer. Und fertig. Noch Fragen? Nach 20 Minuten ist der ganze Zirkus schon wieder vorbei. Trainerentlassungsalltag. Alles in allem: ein ganz normaler HSV-Montag.
Dieser ganz normale HSV-Montag begann zwei Tage nach der blamablen 0:6-Niederlage in München früh: Interims-Clubchef Frank Wettstein, seit vergangenem Donnerstag der letzte verbliebene Vorstandsmohikaner beim HSV, und Sportdirektor Bernhard Peters fuhren am Volkspark vor. Draußen: fünf Kamerateams und 20 wartende Journalisten im Nieselregen. Drinnen: Noch-U-21-Trainer Christian Titz, der bereits am Vortag einen ersten Gedankenaustausch mit Aufsichtsratschef Bernd Hoffmann hatte, und die große Frage: Macht ein Trainerwechsel in dieser Situation überhaupt noch Sinn?
Pünktlich zur Mittagszeit hat man die Antwort gefunden: Ja! Die HSV-Entscheidungen im Schnelldurchlauf: Bernd Hollerbach? Beurlaubt. Christian Titz? Befördert. Und Ex-Aufsichtsrat Thomas von Heesen? Zurückgeholt. Als sportlicher Berater des Vorstands.
Bei Anruf: Entlassung
Und nun noch einmal langsam: Zunächst rief Frank Wettstein den gerade erst vor sieben Wochen verpflichteten Hollerbach an und teilte ihm seine Beurlaubung am Telefon mit. Bei Anruf: Entlassung. „Wegen der Entfernung konnte ich ihm die Entscheidung nur am Telefon mitteilen“, sagte Wettstein, dunkler Anzug, Schlips und Kragen, am Nachmittag. „Ich habe ihm meinen persönlichen Dank ausgesprochen. Aber wir haben die sportliche Gesamtlage nach der 0:6-Niederlage in München intensiv analysiert und diskutiert. Am Ende sind wir zur Überzeugung gelangt, dass wir im Hinblick auf unsere Chancen im Kampf um den Klassenerhalt handeln mussten.“ Gesagt, getan.
Leitartikel: HSV muss sich klug neu aufstellen
Gut 100 Stunden zuvor klang das noch ganz anders. Auf die Frage, ob er einen Trainerwechsel noch in dieser Saison für möglich halte, antwortete Wettstein am Donnerstag an gleicher Stelle: „Stand heute halte ich das nicht für möglich.“ Und auch bei der Nachfrage, wie es denn im Falle eines Abstiegs mit Hollerbach weiterginge, antwortete Wettstein unmissverständlich: „Wir haben seinerzeit entschieden, dass Bernd Hollerbach im Falle des Abstiegs ein geeigneter Kandidat ist. Deswegen ist man auch zu der Einschätzung gekommen, dass man Bernd Hollerbach beruft. Und an dieser Einschätzung hat sich – Stand heute – nichts geändert.“ Und für alle, die es immer noch nicht so recht glauben wollten, stellte Wettstein ein letztes Mal klar: „Nur weil wir einen Wechsel im Vorstand haben, ändern wir nicht unsere Richtung.“
Verabschiedung am Telefon
Von wegen. Vier Tage später waren Wettsteins warme Worte vom Donnerstag ähnlich viel wert wie der „unmännliche Auftritt“ (Gotoku Sakai) des HSV gegen die übermächtigen Bajuwaren am Sonnabend: nichts.
Und Bernd Hollerbach, der statistisch erfolgloseste HSV-Trainer aller Zeiten? Der griff seinerseits zum Telefonhörer, rief Mitarbeiter, Spieler und Journalisten an, und verabschiedete sich. Traurig, aber höflich. Stil ist eben nicht das Ende eines Besens. „Natürlich bin ich enttäuscht, aber so ist nun mal das Geschäft“, sagte der Sieben-Wochen-HSV-Trainer im Gespräch mit dem Abendblatt.
Ab diesem Dienstag heißt es beim HSV: Hollerbach war gestern, heute ist Titz. Der Fußballlehrer soll bereits am Morgen um 10 Uhr das erste Training leiten, wird anschließend den Medien vorgestellt. „Mich beeindruckt seine absolute Leidenschaft für das Spiel. Er ist mit großer Akribie unterwegs“, lobte Bernhard Peters den dritten HSV-Cheftrainer dieser Saison schon einmal vorab überschwänglich. Doch auch das: Trainerwechselalltag beim HSV.
Nie höherklassig gespielt
Wobei: So ganz passt dieser Titz, der vorerst nur bis Sommer das Himmelfahrtskommando Klassenerhalt übernehmen soll, nicht in das bisherige Hollerbach-Gisdol-Labbadia-Raster des HSV: Der gebürtige Mannheimer hat nie höherklassig gespielt, hat nie in der Bundesliga trainiert. Wer am Montagmorgen Christian Titz bei Google eingab, fand bei Wikipedia eine sogenannte Löschdiskussion. Die Begründung: „Zeitüberdauernde Relevanz ist nicht vorhanden. Wikipedia kann nicht für jeden Amateurtrainer Artikel anlegen.“
Nun ja. Vor seinem Engagement im HSV-Nachwuchs war dieser 46 Jahre alte „Amateurtrainer“ als staatlich geprüfter Betriebswirt, diplomierter Sportmanager, Individualtrainer, Taktikexperte bei WM- und EM-Turnieren, Europascout für den US-Verband und als Buchautor tätig. Insgesamt hat der Tausendsassa mehr als 50 E-Books über Taktik und Technik im Fußball geschrieben. Auf die Frage, was er eigentlich am liebsten mache, antwortete Titz vor ein paar Jahren: „Ich liebe den Fußball und bin besessen von diesem Spiel.“
Genau diesen Eindruck muss der frühere Personaltrainer von Lewis Holtby auch vor drei Jahren im Bewerbungsgespräch beim HSV hinterlassen haben. „Er kam zu mir ins Büro wie viele Trainer schon vor ihm zu mir ins Büro gekommen sind“, sagte Bernhard Peters am Montag. „Aber wir haben uns dann unterhalten und es hat mir gefallen, wie er sich da präsentierte.“
Christian Titz denkt in Chancen
Titz wurde U-17-Trainer, dann U-21-Trainer und nun Acht-Spiele-Rettertrainer beim HSV. „Der Fokus liegt nur auf den nächsten acht Spielen“, stellte Frank Wettstein klar. Im Sommer soll dann noch einmal neu entschieden werden. Aber: „Christian Titz denkt nicht in Risiken sondern in Chancen.“
Vor sieben Wochen sagte Bernd Hollerbach an gleicher Stelle: „Ich denke nicht ans Scheitern, sondern an Chancen.“ Am Montag sagte er: „Ich wünsche meinem Nachfolger und besonders dem HSV alles Glück der Welt.“
Sie werden es brauchen. Einen ersten Erfolg verbuchte Titz bereits am Nachmittag: sein ausführlicher Wikipedia-Eintrag war online.
Profis unter Beobachtung
Vorstand Frank Wettstein kündigte am Montag an, dass nach dem Trainerwechsel nun die eigenen Profis unter Beobachtung stehen: „Mir hat es nicht gefallen, was ich zuletzt in München gesehen und mir anschließend von sportlich kompetenten Kollegen habe analysieren lassen. Man kann bei den Bayern verlieren, aber es kommt auf die Art und Weise, die Bereitschaft zur Gegenwehr an“, sagte Wettstein, und wurde nach der Beförderung von Christian Titz sehr deutlich: „Sollte das neue Trainerteam Spieler identifizieren, die sich nicht mit ausreichend Engagement den gemeinsamen Zielen widmen, kann es rigoros durchgreifen.“
17 Trainer in elf Jahren beim HSV:
17 Trainer in elf Jahren beim HSV
Namen nannte er nicht, sagte aber, dass ihm einige Kommentare einiger Spieler nach dem 0:6 in München nicht gefallen haben. Zur Erinnerung: Kyriakos Papadopoulos kritisierte die Transferpolitik, Sven Schipplock vermisste die entsprechende Einstellung. „Und bevor jetzt jemand denkt, dass einige unserer Spieler einfach lächelnd zum nächsten Club gingen, falls wir absteigen sollten, dann muss ich mahnend den Finger heben“, sagte Wettstein. „Eine Großzahl unserer Akteure hat einen gültigen Zweitligavertrag. Und wir werden bestimmt nicht jeden wechselwilligen Profi ziehen lassen, der uns mit in diese Lage gebracht hat.“
Die Liste der bezahlten HSV-Urlauber
Nach der Freistellung von Bernd Hollerbach, dessen Assistenten Steffen Rau, Rodolfo Cardoso und Torwarttrainer Stefan Wächter sowie von Teammanagerin Maria Wallenborn hat sich die Liste der HSV-Angestellten, die nicht mehr arbeiten, aber noch vom Club bezahlt werden, am Montag noch einmal erweitert. Ebenfalls dabei: Hollerbachs Vorgänger Markus Gisdol sowie dessen Co-Trainer Frank Kaspari und Frank Fröhling, die auch im Fall des Abstiegs weiter Gehalt beziehen. Auch noch in der Zweiten Liga bezahlt werden müsste der am Donnerstag beurlaubte Sportchef Jens Todt. Der freigestellte Vorstandsvorsitzende Heribert Bruchhagen soll dagegen nach Informationen der „Sport Bild“ ab Sommer auf sein ihm zustehendes Gehalt verzichten.