Hamburg. Aufbäumen des Dinos kommt zu spät. Abstand auf den Relegationsplatz wächst auf sechs Punkte. Kritik an Droh-Transparent.

Nein, noch ist der HSV nicht abgestiegen. "Das wäre ja noch schöner", protestierte der Vorstandsvorsitzende Heribert Bruchhagen, "es gibt keine Resignation." Wer oder was aber soll den Bundesliga-Dino noch vor dem Aussterben bewahren? Die Frage stellt sich mehr denn je nach der 1:2-Heimniederlage gegen Bayer Leverkusen am Sonnabend.

Es war bereits das zehnte Bundesligaspiel ohne Sieg. 17 Punkte – so schlecht stand der HSV nach 23 Spieltagen noch nie da. Der Rückstand auf Relegationsplatz 16 beträgt nun schon sechs Zähler. Und der Glaube an den Klassenerhalt schwindet auch nach dem Trainerwechsel rasant. Für Bernd Hollerbach war es im vierten Spiel auf der HSV-Bank die zweite Niederlage nach zwei Unentschieden, kein HSV-Coach in der Bundesliga ist so erfolglos in seine Amtszeit gestartet.

Und von den Fans hat seine verunsicherte Mannschaft offenbar auch keine Unterstützung mehr zu erwarten. Einige verloren nach dem Spiel die Nerven. Aber dazu später mehr.

Der HSV in der Einzelkritik

„Wir sind alle wahnsinnig enttäuscht, dass wir diese Chance nicht genutzt haben, um Boden gutzumachen“, sagte HSV-Sportchef Jens Todt am Sky-Mikofon, „diese Niederlage tut wahnsinnig weh.“ Erst nach einer Stunde schienen die Hamburger den Glauben an sich gefunden zu haben – zu spät, um dem Spiel noch eine Wende zu geben. "Man hat gerade den jungen Spielern angemerkt, dass die Nervosität groß ist", sagte Hollerbach. "Fußballerisch ist Leverkusen auf einem anderen Niveau. Jetzt müssen wir gegen die Gegner auf Augenhöhe punkten."

Gegen Champions-League-Anwärter Leverkusen, das war von vornherein klar, würde es nur über den Kampf etwas zu gewinnen geben. Würde das Spiel am Ende gar wieder zu einer Treterei ausarten, wie es bei diesem Duell in der jüngeren Vergangenheit wiederholt der Fall gewesen war? Diese Sorge hatten die Leverkusener in den vergangenen Tagen öffentlich artikuliert. „Aggressivität und Härte sind legitime Mittel im Abstiegskampf, aber es darf nicht ausarten“ , mahnte Trainer Heiko Herrlich noch kurz vor dem Spiel. Und durfte sich schon nach zehn Minuten bestätigt fühlen: HSV-Verteidiger Mergim Mavraj kam gegen Wendell zu spät und trat dem Brasilianer übel auf dem Fuß. Mavraj sah zu Recht Gelb, doch Leverkusen war härter gestraft: Wendell musste durch Benjamin Henrichs ersetzt werden.

Salihovic ersetzt Hunt

Dabei war die Bayer-Defensive durch den Ausfall von Jonathan Tah ohnehin schon geschwächt – der frühere HSV-Profi verpasste die Rückkehr in seine Heimat aufgrund eines grippalen Infekts. Ihn ersetzte Tin Jedvaj – für den Kroaten war es das Saisondebüt nach einer langwierigen Schienbeinverletzung. Doch der HSV wusste die Personallücken nicht zu nutzen. Trainer Bernd Hollerbach hatte das Angriffsdrittel als Problemzone ausgemacht, doch das Dilemma dieses HSV beginnt schon viel früher: im Spielaufbau. Es fehlt schlicht an Passpräzision.

Die Statistik

Hamburger SV

Mathenia – Mavraj (46. Hahn), Papadopoulos, van Drongelen – Sakai, Gideon Jung, Walace, Santos – Salihovic (79. Hunt) – Arp (54. Wood), Kostic

Bayer 04 Leverkusen

Leno – Jedvaj, Retsos, Sven Bender, Wendell (16. Henrichs) – Kohr, Aránguiz – Brandt (73. Alario), Bailey – Havertz (88. Baumgartlinger), Volland

Schiedsrichter

Felix Brych (München)

Tore

0:1 Bailey (40.), 0:2 Havertz (50.), 1:2 Hahn (70.)

Zuschauer

45.691

Gelbe Karten

Mavraj (2), Salihovic – Retsos (4), Aránguiz (3)

Torschüsse

11:15

Ecken

4:3

Ballbesitz

49:51 Prozent

Zweikämpfe

108:118

1/10

Daran änderte auch die Hereinnahme von Techniker Sejad Salihovic nichts. Hollerbach hatte dem Bosnier anstelle von Aaron Hunt die Spielgestaltung übertragen. "Sali war in den vergangenen Spielen sofort präsent, hat die Bälle verteilt, und er will auch in dieser Phase, in der nicht jeder eine breite Brust hat, immer den Ball", sagte der Trainer am Sky-Mikrofon. Über Ansätze kam das Angriffsspiel seiner Mannschaft aber nicht hinaus. Und wenn sich der HSV doch einmal vors Tor kombinierte, geriet der Abschluss kläglich.

Santos' Patzer führt zum 0:1

So wie in der sechsten Minute: Fiete Arp – er nahm erwartungsgemäß Bobby Woods Platz im Sturm ein – trat an der Strafraumkante anstatt gegen den Ball in den Rasen. Auch in der 32. Minute war dem Youngster womöglich der Trainingsrückstand anzumerken. Nach einem Zuspiel von Salihovic versuchte Arp den Drehschuss, verpasste jedoch abermals den Ball. In der Zwischenzeit hatten die Gäste ihre technische Überlegenheit ausgespielt und die Kontrolle über das Spiel übernommen. Die beste Chance vergab Charles Aránguiz, als er seinen Kopfball aus zentraler Position nur wenige Zentimeter am Tor von Christian Mathenia vorbeisetzte (26. Minute).

Für ihr Führungstor brauchten die Leverkusener aber Hamburger Unterstützung: Linksverteidiger Douglas Santos nahm nahe dem Elfmeterpunkt eine harmlose Hereingabe von Dominik Kohr an und ahnte offenbar nicht, dass Leon Bailey hinter seinem Rücken herannahte. Der Bayer-Torjäger bedankte sich für das Geschenk, umkurvte Mathenia und schob zum 0:1 ein (40.). Auch im vierten Spiel mit Hollerbach war der HSV in Rückstand geraten. In Leipzig und gegen Hannover hatte es am Ende immerhin noch zu einem Punkt gereicht. Wie würden die Hamburger diesmal reagieren?

"Wir woll'n euch kämpfen sehen!"

Auf jeden Fall erhöhte Hollerbach das Risiko und wechselte Angreifer André Hahn für den Gelb-Rot-gefährdeten Mavraj ein. Doch schon mit dem ersten Angriff machten die Leverkusener Hollerbachs Pläne zunichte. Bailey schickte Henrichs an die Grundlinie, von dort kam der Ball zu Kai Havertz, der in zentraler Position aus sechs Metern keine Mühe hatte, zum 0:2 abzuschließen (50.). „Wir woll’n euch kämpfen sehen“, skandierte das Volksparkstadion nun. Doch das ganz große Aufbäumen war auch auf der Tribüne, auf der sich nur 45.691 Zuschauer eingefunden hatten, nicht zu spüren.

Und auf dem Platz? Hollerbach brachte nun Wood für den glücklosen Arp, und prompt wurde es endlich einmal gefährlich fürs Bayer-Tor: Eine Flanke von HSV-Kapitän Gotoku Sakai landete auf Woods Kopf, doch diesmal ging der Ball vorbei (60.). Kurz darauf versuchte es Wood mit einem Seitfallzieher, doch Leverkusens Torwart Bernd Leno konnte diesmal noch den Anschlusstreffer verhindern. Den Gästen eröffneten sich nun ihrerseits Räume, doch gleich mehrere Chancen zur Entscheidung blieben ungenutzt.

Joker Hahn überwindet Leno

Stattdessen durfte der HSV noch einmal Hoffnung schöpfen: Nach einem Havertz-Fehlpass wurde Hahn von Walace steil geschickt, und der Joker konnte den herausstürzenden Leno mit der rechten Fußspitze überwunden – 1:2 (70.), Hahns drittes Saisontor. Kurz darauf wurde es wieder laut, als Filip Kostic in Richtung Bayer-Tor zulief, doch der Serbe wurde noch entscheidend abgedrängt, sodass sein Schuss das Tor verfehlte.

Der Dino bäumte sich tatsächlich auf – und verhielt sich dabei einmal zu ungestüm. Salihovic hatte Glück, dass Schiedsrichter Felix Brych seine rücksichtlose Grätsche gegen Kevin Volland nur mit einer Gelben Karte ahndete – sehr zum Unmut der Bayer-Bank (77.). Für die letzten Minuten wurde er durch Hunt ersetzt. Beinahe hätte er noch den Ausgleich feiern dürfen, als in der Nachspielzeit Wood aus zehn Metern zum Abschluss kam. Doch der Schuss des US-Amerikaners verfehlte das Bayer-Tor knapp.

Fan-Tumulte und Bus-Blockade

Dann war auch diese insgesamt verdiente Niederlage besiegelt, was einige Hamburger Fans mit Tumulten quittierten. Einzelne Enttäuschte überwanden die Absperrungen und wurden vom Ordnungspersonal eingefangen, bevor sie zu den Spielern vordringen konnten, die sich gerade für die Unterstützung bedanken wollten. Vor der Nordtribüne nahmen Polizisten mit Hunden Aufstellung.

Hinterm Tor prangte ein Transparent: "Bevor die Uhr ausgeht, jagen wir euch durch die Stadt." Es war vor dem Spiel entrollt worden, dann abgehängt und in der zweiten Halbzeit wieder aufgehängt worden. Wohl nur ein fader Vorgeschmack auf das, was im Stadion passieren könnte, sollte der HSV am Ende tatsächlich absteigen und die Bundesligauhr im Mai nach 55 Jahren stehen bleiben.

„Wir haben Verständnis für die Enttäuschung, aber nicht für Gewaltandrohungen“, sagte Todt, „wir brauchen jetzt den Schulterschluss mit den Fans.“ Und Hollerbach appellierte: "Wir dürfen uns nicht zerfleischen."

Immerhin: Ein Platzsturm blieb aus. Dafür versammelten sich nach dem Spiel knapp 50 Fans vor der Stadionausfahrt, die die Autos der Mitarbeiter und die Mannschaftsbusse nehmen. Sie pfiffen und skandierten "Wir woll'n die Mannschaft sehen!" und "Scheiß-Hamburger-Presse". 13 Polizisten und fünf Hunde standen vor der Absperrung.

Ähnliche Szenen hatte es schon nach der Heimniederlage gegen Köln gegeben. Damals hatte sich die Lage entspannt, als tatsächlich einzelne Spieler herauskamen und den Dialog mit den Fans suchten.

Dazu kam es diesmal nicht. Irgendwann wurde die Absperrung von den Ordnern abgebaut, der Leverkusener Bus konnte passieren – und die spontane Protestkundgebung löste sich wieder auf.

Bruchhagen fordert Punkte

Nun muss am kommenden Sonnabend im Nordderby bei Werder Bremen und eine Woche später gegen Mainz die Wende geschafft werden. "Es bleibt keine Alternative, als an dem Restglauben festzuhalten", sagte Vorstandschef Bruchhagen. "Die nächsten beiden Spiele sind gegen direkte Konkurrenten – wir müssen punkten.“

Daran zu glauben braucht es schon viel Fantasie. Am Sonntag steht erst einmal die Mitgliederversammlung an. Bei der Präsidentenwahl wird es zumindest einen HSV-Gewinner geben.