Hamburg. Das einstige Spitzenspiel hat stark an Attraktivität verloren. Elektrisiert ist bislang nur die Ticketingabteilung des HSV.
„Weißt Du noch?“, nostalgiert am Dienstagabend ein Hobbyfußballer in der Soccerhalle in Stellingen und kramt weit hinten in der Mottenstube seines Fußballgedächtnisses. „Kannst du dich noch erinnern, als HSV gegen Werder noch ein echtes Topspiel war?“ Der andere Bierbauchkicker, ebenfalls komplett in HSV-Montur gekleidet, überlegt kurz. „Alter“, antwortet er. „Da gab es noch die D-Mark und Angela Merkel hieß Helmut Kohl.“
Die pointierte Antwort vom etwas fülligen Ballvirtuosen Nummer zwei ist natürlich eine Übertreibung – so ganz verkehrt ist sie aber nicht. Vier Tage vor dem 107. Nordderby, das angesichts des sportlichen Dauer-Schlamassels der beiden Rautenclubs auch wahlweise als „Not-Derby“ („Bild“) oder „Krisiko“ („Mopo“) betitelt wurde, herrscht hier wie dort mal wieder Katerstimmung. Der Tabellen-17. (Bremen) gastiert beim 15. (Hamburg) – und genau wie vor einem Jahr, als der 18. (HSV) auf den 16. (Werder) traf, wird maximal einer der beiden am Ende des Wochenendes nicht auf einem Abstiegsrang stehen.
Allgemeines Krisengeheule
Tatsächlich hat sich das Traditionsduell der Bundesliga – keine Partie hat es häufiger gegeben – in den vergangenen Jahren immer mehr zum Derby des Grauens entwickelt. Auch in der Spielzeit 14/15 trafen 17. und 16. aufeinander, ein Jahr zuvor waren es 15. und 14. (Hinrunde) und 14. gegen 16. (Rückrunde). „Ein Derby ist ein Derby“, entgegnet Trainer Markus Gisdol dem allgemeinen Krisengeheule zum Trotz. „Und dieses Derby wird elektrisieren.“
Elektrisiert ist bislang allerdings nur die Ticketingabteilung des HSV, die für das traditionsreiche Duell Not gegen Elend ganz im Ernst einen satten Topzuschlag fordert. So kostet ein Platz auf der Westtribüne im B-Rang 85 statt 64 Euro – plus fünf Euro Versandkosten. Bis gestern Nachmittag waren 52.500 der 57.000 Karten verkauft – die beiden Soccerhallen-Ronaldos aus Stellingen selbstverständlich schon eingerechnet.
Schwacher HSV verliert in Leverkusen:
Schwacher HSV verliert wieder zu null in Leverkusen
Ein paar Tickets sollten bis zum Sonnabend noch an den Mann gebracht werden. Immerhin dürfen sich Masochisten auf das Duell der zuletzt in vier Spielen torlosen HSV-Offensive gegen die seit 45 Jahren schlechteste Werder-Sturmreihe freuen. Drei Törchen erzielten die Bremer in sechs Spielen. Hüben fallen Nicolai Müller und Filip Kostic aus, drüben müssen Torjäger Max Kruse und vermutlich auch Zlatko Junuzovic ersetzt werden. „Den Kruse kannste nicht ersetzten“, orakelt der Bierbauch in der Soccerhalle, und liefert einen Schenkelklopfer anbei: „Den kannste nicht mal in der Disco ersetzen.“
Drei Tage ist es her, dass der an der Schulter verletzte Bremer von einem Paparazzo in einem Nachtclub in Berlin abgeschossen wurde. Das alleine darf man als „dumm gelaufen“ bezeichnen. So richtig saublöd wird der Vorfall aber erst deswegen, weil der Paparazzo Kruses Schwester war. Immerhin präsentierte sich der gebürtige Reinbeker im Anschluss an den Vorfall ähnlich kreativ wie sonst nur auf dem Spielfeld: Die Ärzte hätten ihm gesagt, dass Bewegung wichtig sei. „Ich brauche ja auch ein bisschen Zeit für mich um optimal fit zu werden, natürlich auch mal den ein oder anderen Gang in eine andere Stadt“, sagte Kruse, „um auch mal ein bisschen die Sau raus zu lassen.“
Abteilung Gaga
Somit übernahm Kruse die Abteilung Gaga, die in den vergangenen Jahren sonst immer Ex-Keeper Tim Wiese in freundschaftlicher Zusammenarbeit mit der „Bild“ überlassen wurde.
Doch statt spaßiger Wiese-Flegeleien drückt die Boulevardzeitung in Bremen vor dem diesjährigen Nordderby ganz im Ernst aufs Gaspedal. „Spieler-Kritik an Nouri-Taktik“ hieß es nach dem 1:1 gegen Wolfsburg, und weiter: „Im Klartext: Nouri vercoacht sich in der ersten Hälfte.“ Dabei muss man wissen, dass der mediale Druck mittlerweile auch im ach so beschaulichen Bremen längst angekommen ist. Der „Weser-Kurier“ etwa hat elf Redakteure, die sich einzig und alleine mit Werder und der Werder-Krise beschäftigen.
Die Zeiten, in denen über die „Wunder von der Weser“ und Europapokalschlachten berichtet wurden, sind in Bremen fast so lange vorbei wie in Hamburg. 2010 qualifizierte sich Werder zuletzt für die Champions League. Danach lauteten die Abschlussplatzierungen: 13, 9, 14, 12, 10, 13, 8. Das ist nicht gut, aber immerhin noch besser als die Endplatzierungen des HSV: 8, 15, 7, 16, 16, 10, 14 lauten die Zahlen des Schreckens.
Richtig ungemütlich könnte es in Hamburg aber werden, wenn Gisdols HSV auch am Wochenende gegen Nouris Werder verliert und erneut auf einen Abstiegsplatz abrutscht. HSV-Chef Heribert Bruchhagen war nach dem erschreckenden 0:3 in Leverkusen zwar der Meinung, dass es „für viele Vereine eine spannende Frage ist, wer am Ende 18., 17. oder 16. wird.“ Doch ob die bislang 52.500 erwartungsfrohen Zuschauer diese Thematik genauso aufregend finden, darf bezweifelt werden.
1980 erwischte es Bremen
„Der Dino kann doch gar nicht absteigen“, sagt in Stellingen Hobbyfußballer Nummer eins und drischt den Ball unter die Latte. Und tatsächlich drängt sich nach dem mehrfachen Fast-Abstieg der Gedanke auf, dass der HSV ganz im Ernst unverwundbar sei. Doch wie gefährlich dieser Gedanke ist, zeigt das Beispiel Werder Bremen. 1980 erwischte es die bis dahin Unabsteigbaren, die nach mehreren Jahren als graue Maus und Abstiegskandidat am Ende als Tabellenvorletzter abstiegen. „Werder oder der HSV – einer ist in diesem Jahr fällig“, sagt der Bierbauchkicker.
Fußball ist ein lustiges Geschäft. Nicht einmal zwei Wochen ist es her, als sich manch ein HSV-Anhänger gefragt hat, ob ihr Club des Herzens auch nach dem Nordderby Nummer eins gegen Hannover noch einmal als Tabellenführer übernachten könnte. Wahrscheinlich auch die beiden Kicker aus der Soccerhalle. Drei Pleiten später sieht die Sachlage vor dem Nordderby Nummer zwei anders aus. „Im Derby müssen wir nun die Ärmel hochkrempeln, Brust raus und den Sieg holen“, floskelt also HSV-Torhüter Christian Mathenia.
Im Norden nichts Neues.