Rotenburg/Wümme. Der Weg des HSV erinnert an den Abstieg des VfB Stuttgart. Ex-Trainer Stevens macht aber einen entscheidenen Unterschied aus.
Sie wollten noch einmal „die Kräfte bündeln“. Noch „enger zusammenrücken“. Sich in „aller Ruhe auf das Spiel fokussieren“. Den „Geist im Team beleben“. Deswegen sei man vor dem 32. Spieltag kurzfristig in das dreitägige Trainingslager gereist. Die Rede ist vom VfB Stuttgart in der Endphase der Saison 2015/16. Und die Sätze stammen vom damaligen Sportdirektor Robin Dutt, der Ende April erklärte, warum der VfB sich auf Mallorca im 5-Sterne-Luxus-Hotel Hilton Sa Torre in Llucmajor auf das Abstiegsendspiel gegen Werder Bremen vorbereitete.
Es sind dieselben Sätze, mit denen ein Jahr später HSV-Sportchef Jens Todt zitiert wird. Die Situation der Hamburger unterscheidet sich nur geringfügig von der des VfB vor zwölf Monaten. Das Luxushotel Wachtelhof, in dem sich der HSV auf das Kellerduell gegen Mainz 05 am Sonntag (15.30 Uhr/Sky und Abendblatt-Liveticker) vorbereitet, hat zwar auch fünf Sterne, liegt aber nicht auf Mallorca, sondern in Rotenburg an der Wümme. Und es ist nicht Ende April, sondern Anfang Mai.
Bilder aus dem Trainingslager:
Der HSV im Trainingslager in Rotenburg
Auch der VfB litt unter Spannungsverlust
Alle anderen Parameter klingen wie eine schlechte Kopie des VfB Stuttgart. Ein jahrelang gegen den Abstieg kämpfender Traditionsclub, der nach einem katastrophalen Saisonstart und einer starken Aufholjagd am Ende der Saison wieder ins Taumeln geraten ist. Ein Sieg gegen Hoffenheim, der für vermeintliche Rettungsgefühle sorgte. Ein Spannungsverlust. Drei Niederlagen in Folge. Die Flucht in ein Kurztrainingslager. Und die Frage: Wie kriegt man kurz vor Saisonschluss die Kurve?
Im Fall Stuttgart ist die Frage längst beantwortet. Der VfB hat die Kurve nicht mehr bekommen. Er verlor auch die restlichen drei Saisonspiele und stieg direkt in die Zweite Liga ab. Ein Szenario, das in Stuttgart niemand erwartet hatte. Schließlich hatte man doch so tolle Offensivspieler wie Timo Werner, Daniel Didavi oder Filip Kostic. Und schließlich war doch bis dahin am Ende immer alles gut gegangen.
Stevens sieht einen entscheidenen Unterschied
Auch beim HSV ist bislang am Ende immer alles gut gegangen. Auch der HSV hat jetzt Offensivspieler wie Filip Kostic. Wohin also führt der Hamburger Weg 2017? „Er führt zum Klassenerhalt“, sagt der Mann zum Abendblatt, der sowohl den HSV als auch den VfB Stuttgart in vergleichbaren Situationen gerettet hat: Huub Stevens.
Der Niederländer, der seine Trainerkarriere vor einem Jahr wegen Herzproblemen beendet hatte, ist davon überzeugt, dass der HSV den Stuttgarter Weg vermeidet und in der Bundesliga bleibt. Was ihn so sicher macht? „Der HSV hat genügend Qualität.“ Doch die hatte der VfB auch. „Der HSV hat Erfahrungen mit der Situation.“ Die hatte Stuttgart auch. „Aber Stuttgart hat die Lage unterschätzt“, sagt Stevens über die Ursachen des Abstiegs des Clubs, den er in den Jahren zuvor zweimal gerettet hatte. Diesen Fehler würde der HSV nicht machen.
Kostic als Hoffnungsträger gegen Mainz
Stevens weiß, was in der Endphase der Saison entscheidend ist. „Du musst die Stimmung in der Mannschaft spüren und die entsprechenden Reize setzen.“ Vor zwei Jahren, als der VfB vor dem vorletzten Spieltag gegen den HSV Letzter war, beschimpfte er seine Spieler im Training als „Affen“. Stuttgart gewann 2:1, seine Spieler jubelten mit einem Affentanz, und der VfB zog am HSV vorbei. „Das war eine bewusste, aber riskante Aktion“, sagt Stevens heute. „Ich wusste ja nicht, wie die Spieler reagieren. Aber sie haben die richtige Reaktion gezeigt.“
Unter Stevens spielte auch Filip Kostic so stark wie nie. Der Rekordtransfer des HSV ist am Sonntag gegen Mainz nach seiner Gelbsperre einer der Hamburger Hoffnungsträger – trotz seiner weitestgehend enttäuschenden Saison. „Filip ist ein Spieler, dem man viel Vertrauen und Zuspruch geben muss“, sagt Stevens. Dass die Ablöse von 14 Millionen Euro, die der HSV vor der Saison an Stuttgart zahlte, den Serben hemmt, glaubt er nicht. „Wenn du auf den Platz gehst, denkst du nicht an Geld. Mit den Erwartungen muss ein Bundesligaprofi umgehen können.“
Gisdol will den alten Geist beschwören
Ebenso wenig hält Stevens von der Diskussion um die mentale Müdigkeit des HSV nach dem 0:4 in Augsburg. „Die Spieler haben eine ganze Woche Zeit, sich auf das Spiel vorzubereiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man dann am Spieltag müde im Kopf ist.“
In Markus Gisdol sieht Stevens den richtigen Mann für die Situation – obwohl er seinen einstigen Co-Trainer auf Schalke in seiner kürzlich erschienenen Biografie kritisierte. „Er hat gute Qualitäten als Trainer. Er kann den Spielern helfen“, sagt Stevens. Und darauf komme es jetzt an.
Und wie will Gisdol den HSV-Profis helfen? „Wir wollen den Geist beschwören, der uns stark gemacht hat. Wir werden noch enger zusammenrücken. Wir brauchen einen klaren Kopf“, sagte der Trainer am Freitag in Rotenburg über den Hamburger Weg. Worte, die man vor einem Jahr auch über den Stuttgarter Weg gehört hat. Am Sonntag muss der HSV zeigen, dass er aus dem Fall des VfB etwas gelernt hat.