Hamburg. Vor dem Abstiegsgipfel in Augsburg spricht der HSV-Sportchef über Druck, Kaderplanung, Kühne und einen verhängnisvollen Unfall.

Wahrscheinlich gibt es keinen besseren Ort als Jens Todts Büro, um mit dem HSV-Sportchef ein Gespräch über Angst und Druck zu führen. An der Wand hängt ein blau-weißes Bild von Tochter Emma (18), auf dem der Leitspruch von Facebook-Chefin Sheryl Sandberg gepinselt steht: „What would you do if you weren´t afraid?“ (Auf Deutsch: Was würdest du tun, wenn du keine Angst hättest?)

Herr Todt, stimmt die Beobachtung, dass Sie in jüngster Zeit vermehrt zur Zigarette greifen?

Jens Todt: Nein, das denke ich nicht. Ich bin kein starker Raucher, allerdings ist auch gerade nicht die passende Zeit um aufzuhören (lacht).

Am Sonntag dürften es vor dem Anpfiff in Augsburg ein paar Zigaretten mehr sein, oder rauchen Sie nicht aus Nervosität?

Ich betrachte mich als Genussraucher. Und nach einem Spiel nehme ich mir fünf Minuten Zeit, um herunterzufahren. Das wird auch am Sonntag in Augsburg nicht anders sein.

Ist denn Ihre Mannschaft möglicherweise nervöser, weil Sie der Gejagte ist und von Augsburg überholt werden kann?

Wir können mit der Rolle leben, denn wir haben eine gute Ausgangslage. Für Augsburg ist der Druck noch größer. Unsere Mannschaft hat sich dagegen aus einer schier aussichtslosen Situation wieder nach oben gekämpft. Die Gesamttendenz ist gut.

Ist der Ausreißer gegen Darmstadt mit Druck oder Angst zu erklären?

Der Rucksack wirkte gegen Darmstadt wieder etwas schwerer als in den Wochen zuvor. Die Mannschaft hatte an diesem Tag Schwierigkeiten, die eigenen Erwartungen, aber auch die von außen zu erfüllen. Aber wir haben das Spiel abgehakt.

War der Druck schon mal so groß, dass Sie sich zu einer Wutrede in der Kabine hinreißen ließen?

Das passiert ganz selten. Wenn es passiert, dann ist es aber auch spürbar.

Etwa nach dem 0:8 in München?

Nein, das letzte Mal war ein 0:3 in Aue mit dem Karlsruher SC. Da hat die Mannschaft ihre Vereinbarung nicht eingehalten. Ich gehe immer davon aus, dass es eine unausgesprochene Verabredung zwischen Mannschaft und Verein gibt. Die Spieler tun alles dafür, dass wir Erfolg haben, und wir als Clubverantwortliche schaffen die Rahmenbedingungen, die Erfolg wahrscheinlicher machen. Dazu gehört auch, die eigene Mannschaft nach Rückschlägen zu schützen. Der damalige Auftritt in Aue war nicht in Ordnung, und dann ist es eben mal nach dem Spiel in der Kabine aus mir herausgebrochen. In München wäre es nicht die richtige Reaktion gewesen, auf die Mannschaft einzuprügeln. Im Gegenteil.

Welche Rolle spielt dabei der Teampsychologe Christian Spreckels?

Begleitung im mentalen Bereich wird immer selbstverständlicher im Fußball. Das war vor zehn bis 15 Jahren noch anders. Für uns hat Christian Spreckels eine sehr wohltuende Art. Er ist ein ständiger Begleiter, macht aber keine Krisenintervention. Es macht ja auch keinen Sinn, nach einem 0:8 hastig einen Psychologen herbeizurufen.

Ist Christian Spreckels normalerweise auch in der Kabine dabei?

Ja, aber ohne definierten Part. Christian ist ein fester und selbstverständlicher Bestandteil des Funktionsteams. Er ist immer ansprechbar, aber wir wissen nicht in jedem Einzelfall, welche Spieler seine Unterstützung in Anspruch nehmen. Und das ist auch gut so.

Gab es auch zu Ihrer Zeit als Spieler einen Teampsychologen?

Zu Anfang meiner Karriere war das undenkbar, zum Ende meiner aktiven Fußballerzeit gab es mal punktuelle Zusammenarbeit. Ich kann mich erinnern, dass wir in Stuttgart mal einen Mentaltrainer in der Vorbereitung hatten, der bestimmte Teambuilding-Maßnahmen moderierte. Die Hälfte unserer Mannschaft fand das gut, ein Viertel war skeptisch, und ein Viertel hat ihn komplett abgelehnt.

Zu welcher Gruppe gehörten Sie damals?

Ich stand der Idee sehr offen gegenüber. Schon damals fand ich, dass es kein Zeichen von Schwäche ist, wenn man sich professionell begleiten lässt. Heute sieht das eigentlich fast jeder so. Gerade für die jungen Spieler, die aus den Leistungszentren kommen, ist Mentaltraining inzwischen ganz normal.

Welche Rezepte haben Sie für sich ganz persönlich gefunden, mit Angst- und Drucksituationen umzugehen?

Ich finde, dass man so ehrlich sein muss sich einzugestehen, dass auch das Scheitern dazugehört. Man muss nicht jede Drucksituation mit Bravour meistern, aber man kann sich ihr stellen. Ich bin kein Freund davon, in Drucksituationen irgendwelche außergewöhnlichen Wunderdinge auszuprobieren. Gerade in schwierigen Momenten sollte man sich besser auf seine gewohnten Abläufe konzentrieren.

Wir können uns gut an eine große Drucksituation in Ihrer aktiven Karriere erinnern …

… meinen Elfmeter beim Elfmeterschießen im DFB-Pokalfinale zwischen Bremen und dem FC Bayern? (1999, Werder siegte 5:4 im Elfmeterschießen, d. Red.)

Genau. Hatten Sie sich eine Strategie für diesen Moment zurechtgelegt?

Offensichtlich hatte ich keine Strategie oder die falsche, ich habe ja verschossen. Ich war ursprünglich gar nicht als Schütze vorgesehen, wurde aber nach der Verlängerung von meinem Trainer Thomas Schaaf gefragt, ob ich schießen würde. Und das habe ich ja dann auch getan. Ich weiß noch ganz genau, dass mich als erster Bayerns Michael Tarnat getröstet hat, noch während das Elfmeterschießen lief. Daran musste ich auch noch mal denken, als ich am Dienstag das Elfmeterschießen zwischen Frankfurt und Gladbach im Fernsehen gesehen habe und der junge Djibril Sow für Gladbach verschoss.

Gab es mal eine Angst- oder Drucksituation, die Sie überfordert hat?

Ich hatte mal als Scout einen Autounfall, der mich einiges überdenken ließ. Ich war als Scout für Hertha BSC in meinen ersten sechs Monaten in 25 Ländern unterwegs, um mir einen Überblick zu verschaffen. Das war alles zu viel – aber das will man sich ja nicht eingestehen. Der Wagen war total zerstört, aber ich blieb komplett unverletzt.

Unfälle passieren, was hat Sie an dem Vorfall so sehr irritiert?

Es ist an einem Sonntagmorgen passiert, als die Autobahn eigentlich komplett leer war. Ich habe aber ein Auto im Rückspiegel nicht gesehen. Ich muss mit meinen Gedanken woanders gewesen sein. Nach dem Vorfall war ich mir sicher, dass ich mein Hamsterrad verlassen muss.

Wie haben Sie den Druck vom Kessel genommen?

Ich habe dann wirklich mein Leben umgekrempelt. Ich habe zum Saisonende bei Hertha BSC gekündigt und ein Praktikum beim Spiegel angefangen. Ich musste damals etwas machen, weil die Mischung aus An- und Entspannung nicht gestimmt hat.

Hatten Sie im Winter keine Angst, dass Sie der erste Sportchef sein könnten, der mit dem HSV absteigt?

Der Gedanke tauchte kurz auf, aber es macht ja keinen Sinn, sich davon negativ beeinflussen zu lassen. Ich wusste, dass die Aufgabe beim HSV eine große Chance, aber auch ein gewisses Risiko ist. Dieses Risiko bin ich aber sehenden Auges eingegangen. Auch heute noch, vier Monate später, bin ich absolut überzeugt, dass es die richtige Entscheidung war und wir die Klasse halten.

Trotzdem müssen Sie zweigleisig planen.

Klar, aber das müssen viele meiner Kollegen ja genauso. Und natürlich haben auch wir schon Lösungen für bestimmte Szenarien im Kopf. Unser großes Ziel ist, dass wir aus der Saison rausgehen und dass der überwiegende Teil unseres Kaders im Laufe der Sommerpause steht. Wir wollen, dass unser Grundgerüst vor dem Trainingsstart steht.

Wie soll das funktionieren? Auch Ihr Vorgänger Peter Knäbel hatte sich im vergangenen Jahr viele Gedanken gemacht. Und am Ende war alles für die Katz, weil im Sommer Klaus-Michael Kühne um die Ecke kam und man plötzlich dank seiner Hilfe in ganz anderen Preisdimensionen denken konnte …

Wir bemühen uns, alle Szenarien zu berücksichtigen. Herr Kühne hat dem HSV in der Vergangenheit sehr geholfen und tut es ja immer noch.

Und schon sind wir wieder beim Thema Druck. Mit Herrn Kühnes Hilfe wachsen auch die Erwartungen.

Jein. Ich persönlich wäre total zufrieden, wenn wir in der kommenden Saison endlich mal eine normale, sorgenfreie Spielzeit hätten. Und ich habe das Gefühl, dass auch unsere Fans mit diesem Anspruch gut leben könnten. Bevor wir aber darüber nachdenken, müssen wir zunächst einmal die Klasse halten. Das steht über allem.