Hamburg. Nicht nur der HSV startete historisch schlecht, sondern auch Ingolstadt, Bremen und Darmstadt. Nun kommt es zu den direkten Duellen.
Kein Mensch muss müssen. Sagte Nathan der Weise. Im gleichnamigen Werk von Gotthold Ephraim Lessing, 1779. Es ist nicht überliefert, ob sich HSV-Profi Nicolai Müller in der Schule mit dem fünfaktigen Drama beschäftigen musste. Doch was der Hamburger Flügelstürmer im November 2016 über die Situation seines Clubs sagt, erinnert stark an den berühmten Satz von Lessing: „Wir müssen gar nichts.“ Müller wurde darauf angesprochen, ob der HSV nicht allmählich mal den ersten Sieg der seit drei Monaten andauernden Bundesligasaison erreichen müsste. „Wir sind nicht abgeschlagen Letzter und haben zwölf Punkte Rückstand“, antwortete also Müller. Deswegen müssen wir gar nichts, aber natürlich wollen wir punkten.“
Müller hat recht. Der HSV ist nicht abgeschlagen Letzter. Er hat auch keine zwölf Punkte Rückstand. Aber er ist Letzter. Und will er in dieser Saison nicht zum ersten Mal aus der Fußball-Bundesliga absteigen, wird er nicht darum herumkommen, Spiele zu gewinnen. Gewinnen zu müssen. „Wir wollen so viele Punkte wie möglich holen bis zur Winterpause“, sagt auch sein Teamkollege Matthias Ostrzolek. Wollen. Nicht müssen.
Dass sich die HSV-Spieler angesichts des historisch schlechten Starts von vier Punkten aus zwölf Spielen nach außen noch relativ entspannt äußern, hat vor allem damit zu tun, dass drei weitere Mannschaften für ein ebenfalls historisch schlechtes Ergebnis gesorgt haben. Neben Hamburg haben auch Darmstadt 98, Werder Bremen sowie der FC Ingolstadt bereits acht Niederlagen nach zwölf Spielen in ihrer Tabellenspalte stehen. So eine Bilanz gab es in der 54-jährigen Bundesligageschichte erst einmal. 1974 war das.
Abstiegskandidaten im direkten Duell
Wie es der Spielplan so will, kommt es am kommenden Wochenende zu den direkten Duellen. Ein Final Four der Abstiegskandidaten. Darmstadt gegen den HSV, Bremen gegen Ingolstadt. Die Hamburger haben die einmalige Chance, mit dem ersten Saisonsieg möglicherweise wieder bis auf einen Punkt an die rettenden Ränge heranzurücken. Man könnte es auch anders ausdrücken: Der HSV muss das Spiel gewinnen.
Die Daten sprechen für die Hamburger eine klare Sprache. In der Bundesliga-Geschichte starteten bislang nur Hertha BSC (2009/4 Punkte), der MSV Duisburg (1994/3), 1860 München (1977/2), Tasmania Berlin (1965/3) sowie der 1. FC Saarbrücken (1963/2) vergleichbar schlecht in die Saison wie der HSV in diesem Jahr. Alle diese Mannschaften stiegen schließlich auch ab. 1860 München schaffte es immerhin noch auf Platz 16. Für den HSV würde dieser Rang am Ende mal wieder die Relegation bedeuten.
Viel entscheidender für die Hamburger ist allerdings der Vergleich mit den Mannschaften auf Platz 15, 16, und 17. Rechnet man den bisherigen Saisonverlauf auf den 34. Spieltag hoch, könnten am Ende bereits 23 Punkte für den direkten Klassenerhalt reichen. Auch das wäre ein bislang einmaliges Ergebnis. Vor drei Jahren hielten die Hamburger mit nur 27 Punkten die Klasse. Auch das schaffte bislang: Nur der HSV.
TSG und FCA machen dem HSV Mut
Trainer Markus Gisdol wird daher auch nicht müde zu betonen, den Optimismus noch nicht verloren zu haben. „Wir dürfen uns nichts vormachen, tabellarisch stehen wir nicht gut da“, sagt Gisdol. „Aber ich sehe eben auch, wie die Mannschaft zuletzt aufgetreten ist.“ Als Durchhalteparolen will er seine Worte daher nicht verstehen, wenn er sagt: „Die Saison ist noch lang.“
Dass es für den HSV möglich ist, die Wende zu schaffen, zeigten in der Vergangenheit viele Mannschaften. Erst im Vorjahr lagen 1899 Hoffenheim und der FC Augsburg nach zwölf Spieltagen abgeschlagen auf den letzten Plätzen. Beide Vereine retteten sich bereits am 33. Spieltag. Die Augsburger sind in der Bundesliga als Spezialisten für eine Klettertour in der Rückrunde bekannt. Vor vier Jahren galten die Bayern mit Trainer Markus Weinzierl zur Winterpause mit acht Punkten als sicherer Absteiger. Am letzten Spieltag gelang dem FCA dann der direkte Klassenerhalt.
Ostrzolek erlebte in Augsburg ähnliche Situation
„Ich weiß, dass man es schaffen kann“, sagt Matthias Ostrzolek. Der HSV-Profi war damals dabei, als Augsburg die Aufholjagd erfolgreich beendete. „Das gibt mir Mut. Ich werde deswegen auch nicht panisch oder werde jetzt den Kopf in den Sand stecken.“ Der Linksverteidiger, der neuerdings im System von Trainer Gisdol im defensiven Mittelfeld spielt, wollte bereits das Nordderby gegen Bremen nicht als „Endspiel“ bezeichnen. Ebenso wenig wie das anstehende Duell gegen den direkten Konkurrenten aus Darmstadt. „Bei 22 verbleibenden Spielen kann man noch nicht von Endspielen sprechen. Das ist noch viel zu früh.“
Bilder des wilden Nordderbys:
Wildes 105. Nordderby HSV gegen Werder Bremen
Hoffnung darf dem HSV die Saison 1974/75 machen. Auch damals hatten nach zwölf Spieltagen vier Mannschaften acht Partien verloren. Am Ende reichten umgerechnet auf die Dreipunkteregel bereits 22 Punkte für Rang 16. Die Hochrechnung weist für diese Saison dieselbe Zahl aus. Den Relegationsplatz würden die Hamburger Stand jetzt vermutlich unterschreiben.
Will der HSV ab Montag nicht die Planungen für die Zweite Liga vorantreiben müssen, gibt es allerdings nur eine Möglichkeit: Er MUSS endlich anfangen, zu gewinnen. Auch wenn Nicolai Müller das anders sieht. Denn ein Abstieg wäre für den HSV vor allem eins: ein echtes Drama.