Suche nach Sportchef gerät ins Stocken. Gisdol fordert neue Spieler und gibt für Dienstag frei. Fans finden deutliche Worte.
Tristesse, die. Wortart: Substantiv, feminin. Gebrauch: bildungssprachlich. So steht es im Duden geschrieben. Das Online-Lexikon ergänzt noch ein wenig altklug: Die Tristesse (frz. für Trauer; Traurigkeit) bezeichne ein Gefühl der Traurigkeit, der Trübseligkeit, des Jammers oder der Ödnis. Nur auf ein anschauliches Beispielbild verzichten Duden und Lexikon. Dieses wurde dafür in einer einmaligen Deutlichkeit am Montagmorgen im Volkspark geboten: dunkle Wolken, Regen, acht Rentner, ein Hund. „Da laufen sie, die Versager“, sagt einer, als die HSV-Profis ihre Runden um den Trainingsplatz drehen. „Was für eine Tristesse“, sagt ein anderer. Nur der Hund, der sagt nichts.
Willkommen beim Schlusslicht.
0:3 hatte der HSV am Vortag beim 1. FC Köln verloren. Der lose Männerbund, der in der Theorie die Bundesligamannschaft aus der Hansestadt darstellen soll, hatte am Sonntagabend wie so häufig in dieser Saison eine Stunde lang mehr oder weniger dagegengehalten, ehe man zum Ende mit der fast schon obligatorischen Klatsche im Gepäck den Heimweg antreten musste. Die Bilanz des Schreckens: sieben Niederlagen aus neun Spielen, insgesamt nur zwei Punkte und dazu noch eine historische Torarmut. Der HSV wartet tatsächlich seit 662 Minuten auf einen Bundesligatreffer, hat einen anderen Rekordhalter aber längst überflügelt. So startete selbst Tasmania Berlin, das Bundesliga-Synonym für schlecht, desolat und blamabel, in der Saison 1965/66 mit immerhin einem Sieg und einem Remis besser. In der Hansestadt wird nun nicht mehr darüber gerätselt, ob die Hamburger Tasmanias damaligen Saisonminusrekord (zwei Siege, vier Unentschieden) unterbieten können, sondern wie dieser HSV überhaupt auch nur ein einziges Spiel gewinnen soll.
Zwei Punkte, zwei Tore – zwei Wörter und ein Fragezeichen: Was nun?
Gisdol stellt Transferforderungen
Es ist bereits Mittag am Tag danach, als Trainer Markus Gisdol im Bauch des Volksparkstadions steht und genau diese Frage beantworten soll. „Ruhe, Kontinuität, Stabilität“, sagt der Schwabe. Ob er diese drei Schlagwörter noch ein wenig ausführen könnte? „Nein“, antwortet Gisdol ruhig, aber bestimmt. Es sei alles gesagt, nun müssten Taten her. „Wir dürfen uns nicht von dieser Hektik von außen anstecken lassen, sondern müssen zielgerichtet weiterarbeiten“, so der Trainer, der zudem als Sofortmaßnahme bestimmte, dass der Bundesligakader ab sofort immer erst kurz vor dem Spiel verkündet wird.
HSV fällt nach Roter Karte in Köln auseinander
Ruhe bleibt die erste Trainerpflicht. Doch so wortkarg sich Gisdol nach dem 0:3 gegen Köln extern präsentierte, so wortreich soll er intern auf die Dramatik der Lage hingewiesen haben. Anders als HSV-Chef Dietmar Beiersdorfer („Ich habe keine Angst“) soll der Neu-Hamburger sogar deutlich gemacht haben, dass es in dieser Saison nur noch um das nackte Überleben geht. Seine internen Forderungen: Die völlig falsch zusammengestellte Mannschaft brauche im Winter dringend Verstärkungen. Es fehle ein Führungsspieler, zudem müssen ein gestandener Innenverteidiger und eine Soforthilfe im defensiven Mittelfeld her. Es sind die gleichen Forderungen, die bereits Gisdol-Vorgänger Bruno Labbadia gestellt hatte. Doch auch mit der Offensive, die im Sommer durch Beiersdorfer millionenschwer verstärkt wurde, soll der frühere Hoffenheimer alles andere als zufrieden sein.
Hoogma oder Heldt – wer wird Sportchef?
Bleibt nur die Frage, wer das abgeschlagene Tabellenschlusslicht der Liga im Winter wieder bundesligatauglich machen darf. Auch fünf Monate nach der Entlassung von Ex-Sportchef Peter Knäbel ist eine Entscheidung für einen Nachfolger noch immer nicht gefallen. Nach Abendblatt-Informationen hat Beiersdorfer zwar mit mehreren ernsthaften Sportchef-Kandidaten gesprochen, darunter Horst Heldt und der mutmaßliche Top-Kandidat Nico-Jan Hoogma, doch mit einer zeitnahen Verkündung ist trotz des Drucks durch Aufsichtsratschef Karl Gernandt nicht zu rechnen. „Ich bin jeden Tag mit Herrn Gernandt im Austausch. Wenn er mich hätte anzählen wollen, dann hätte er das persönlich gemacht und mir dabei in die Augen geguckt“, sagte der HSV-Chef am Sonntagabend. „Wir haben ein offenes und sehr vertrauensvolles Verhältnis.“
Auf dieses setzt auch Trainer Markus Gisdol. Nur öffentlich äußern will er sich am Montag zu all dem nicht. Im Gegensatz zum Umgang mit Rotsünder Bobby Wood, für den sich der 47-Jährige ein paar deutliche Worte zurechtgelegt hat. „Natürlich müssen wir Bobbys Platzverweis sanktionieren“, sagt Gisdol, der sich lediglich noch die Höhe der Geldstrafe überlegen will. Wood, dem eine mehrwöchige Sperre droht, habe sich zwar am Montagmorgen noch vor dem Training bei der gesamten Mannschaft entschuldigt, was eine gute Reaktion gewesen sei, aber es damit auf sich zu belassen, will Gisdol dann auch nicht. „Das geht einfach nicht.“
Gisdol setzt auf Mentaltraining
Obwohl Gisdol am Tag nach dem Spiel nur wenig sagen will, sagt er am Ende dann doch einiges. Es sei nun an der Zeit, so der Fußballlehrer, dass er den Druck von der Mannschaft nehme: „Die Spieler brauchen einen stabilen Anführer. Und genauso sehe ich jetzt meine Aufgabe.“
Kommentar: Der unaufhaltsame Absturz Richtung 2. Liga
Ganz alleine auf sich und seine Co-Trainer will sich der Coach in dieser Lage dann aber doch nicht verlassen. So war es für Gisdol ein logischer Schritt in dieser Situation, den Sportpsychologen Christian Spreckels ins Trainerteam zu integrieren. Mit Mentaltrainer Jan Mayer habe er auch in Hoffenheim schon gute Erfahrungen gemacht: „So eine Personalie ist heutzutage unabdingbar. Jede Leistungsmannschaft hat einen Spezialisten für das Torwarttraining, für die Spielanalyse und für alles andere auch. Da ist es doch nur logisch, dass das auch für das Mentaltraining gilt.“
Nach einer knappen Viertelstunde hat Gisdol dann endgültig genug gesagt. Es mache keinen Sinn, den ganzen Tag über die Tristesse der Tabelle zu philosophieren, sagt der Schwabe und verabschiedet sich mit der Gewissheit, dass die HSV-Welt an Tag zwei nach dem 0:3 schon wieder ganz anders aussehen wird. An diesem Dienstag ist: frei.