Hamburg. Schon wieder verpasst der HSV gegen einen vermeintlich kleinen Gegner einen großen Sprung. Eine Frage der Qualität oder des Kopfes?
Dichter Nebel lag über dem Trainingsplatz im Volkspark. Die Mützen der Spieler waren tief in die Gesichter gezogen. Und doch war nur unschwer zu erkennen, in welcher Gemütslage die Spieler des HSV am Montagmorgen ihrer Arbeit nachgingen. „Wir sind alle noch total genervt und tief enttäuscht“, sagte Trainer Bruno Labbadia über das, was jeder sehen konnte. Auch 15 Stunden nach der 1:2-Niederlage gegen Hannover 96 wollten die Hamburger noch immer nicht wahrhaben, was ihnen am Abend zuvor widerfahren war. Stürmer Pierre-Michel Lasogga schrieb am Nachmittag stellvertretend für seine Kollegen ein einziges Wort an seine Anhänger auf Facebook, Twitter und Instagram: „Enttäuscht.“
Im Grunde ist es kein neues Gefühl, das der HSV am Sonntagabend erlebte. Man hatte ein Bundesligaspiel verloren. Wie so häufig in den vergangenen Jahren. Neu aber war die Art und Weise, wie man das Spiel verloren hatte. Ein Spiel, das man nicht hätte verlieren dürfen. Darüber waren sich sowohl die Beteiligten als auch die Beobachter einig. 17:5 Torschüsse für den HSV hatten die Statistiker gezählt, 55 Prozent Ballbesitz gemessen. Und während den Spielern auch am Montag noch die Erklärungen fehlten, hatte Peter Knäbel, Direktor Profifußball, bereits am Sonntagabend im „Sportclub“ des NDR eine ziemlich treffende Analyse formuliert. „Der Gegner hat mit zwei Chancen zwei Tore gemacht, wir mit ganz vielen mehr eben nur das eine, und am Ende steht es dann eben 1:2“, sagte Knäbel. „Das ist die Logik des Spiels, hört sich mathematisch an, tut aber trotzdem weh.“
Problem ist nicht neu in Hamburg
Besonders kompliziert klingt die knäbelsche Mathematik tatsächlich nicht. Und auch Trainer Labbadia drückte seine nachhaltige Enttäuschung in einer einfachen Rechnung aus. „Wir hätten den Vorsprung auf Hannover auf neun Punkte ausbauen können. Jetzt sind es nur drei. Das ist doppelt ärgerlich“, sagte Labbadia. Eine Woche nach dem 1:0-Sieg in Hoffenheim verpasste der HSV zum wiederholten Male die große Chance, mit einem Heimsieg gegen einen vermeintlich kleinen Gegner einen großen Schritt zu machen. Ein Problem, das nicht neu ist in Hamburg. Entsprechend klangen am Montag die Diskussionen unter den Dauergästen beim Training. Einig waren sich die Kiebitze in einer Erkenntnis. „Typisch HSV, nä?“
So ganz typisch war sie aber dann doch nicht, die Niederlage gegen Hannover. Wirkten die Hamburger in den besagten Heimspiele in der Vergangenheit oft uninspiriert, nachlässig und schwerfällig, gab es an der Leistung am Sonntag lange Zeit gar nichts auszusetzen. Der HSV spielte schnell nach vorne, kombinierte, hatte Spaß. Und auch im Torabschluss machten Labbadias Männer nicht alles falsch. Doch entweder stand der Pfosten im Weg oder Hannovers Nationaltorwart Ron-Robert Zieler. Viele Möglichkeiten vergab der HSV stattdessen bereits im Ansatz, als 20 Meter vor dem Tor häufig die falschen Entscheidungen getroffen wurden. „Wir haben es nicht zu Ende gespielt“, sagte Labbadia. „Aber das müssen wir jetzt abschütteln. Wir wissen ja, woran es gelegen hat.“
HSV verliert völlig unnötig gegen Hannover 96
Sportpsychologe warnt vor falschen Schlüssen
Ganz so leicht dürfte es dem HSV aber nicht fallen, das Gefühl der verpassten Chance abzuschütteln. Dominiert und trotzdem verloren – die unnötige Niederlage zehrte mehr als sonst an den Nerven der Mannschaft. Bernd Strauß, Sportpsychologe an der Universität Münster, glaubt aber nicht, dass dieser Rückschlag den HSV von seinem Weg abbringen werde. „Es ist besser, auf diese Art zu verlieren, als nach Ursachen forschen zu müssen und möglicherweise die falschen Schlüsse zu ziehen. Dann kann daraus ein Problem werden“, sagt Strauß. In seinem Buch „Fußball – die Wahrheit“ (mit Daniel Memmert und Daniel Theweleit) hat er sich mit den psychologischen Faktoren im Fußball beschäftigt. Ein Muster will Strauß trotz der erneut zahlreich vergebenen Chancen beim HSV nicht erkennen. „Manche Dinge sind im Fußball unerklärlich“, sagt er.
Und so will auch Labbadia die fehlende Stärke im Torabschluss nicht problematisieren. Im Gegenteil. „Wir erspielen uns viele Torchancen“, sagt Labbadia, dem das Experiment mit der Doppelspitze aus Pierre-Michel Lasogga und Sven Schipplock gut gefallen hat. „Sie haben das Loch im Mittelfeld immer gut ausgefüllt, weil sie gut abgekippt sind und viele Bälle geklaut haben“, sagte Labbadia. Nur die Sache mit dem Toreschießen klappte mal wieder nicht wie gewünscht. Und so stellt sich in der HSV-Offensive auch die Frage der Qualität. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Sportdirektor Knäbel nach einer Verstärkung für den Sturm fahndet. „Wir sind permanent dran, etwas zu tun“, sagte Knäbel im „Sportclub“.
Bis dahin bleibt dem HSV nur der Glaube an die Logik des Spiels. Dass manchmal wenig Torschüsse für einen Sieg reichen, erfuhr der HSV im vorletzten Spiel gegen Hannover. Im Februar dieses Jahres kam 96 im Volkspark auf 70 Prozent Ballbesitz und 21:6 Torschüsse. Das Spiel gewann der HSV 2:1.